Wollen Sie ewig leben?

Seite 3: Wollen Sie ewig leben?

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De Grey nennt sein Programm "Strategies for Engineered Negligible Senescence” ("Strategien, um die Seneszenz vernachlässigbar zu machen”), der Ausdruck erlaubt ihm die Abkürzung SENS (engl. sense = Sinn). An dieser Stelle folgen in willkürlicher Reihenfolge de Greys sieben Reiter des Todes und die jeweilige Anleitung, wie Pferd und Reiter das Genick zu brechen sei. (Mehr Details findet man auf de Greys Webseite). 1. Zellschwund, der Verfall oder Verlust von Zellen: Dieser Teil des Alterungsprozesses ist besonders bedeutsam in Gewebe wie dem Herz und dem Gehirn, in dem Zellen nicht erneuert werden. De Greys Behandlung würde aus Wachstumsfaktoren bestehen, die Zellteilung anregen, oder auch aus einer regelmäßigen Transfusion mit Stammzellen, die speziell dafür ausgerichtet sind, die verlorenen Zelltypen zu ersetzen.

2. Anhäufung von unerwünschten Zellen: Das sind (a) Fettzellen, die zur Vermehrung tendieren und die nicht nur Muskelzellen ersetzen, sondern auch zu Diabetes führen, da sie die Fähigkeit des Körpers verringern, auf das von der Bauchspeicheldrüse produzierte Hormon Insulin zu reagieren. Zum anderen handelt es sich um (b) seneszente Zellen, die sich im Gelenksknorpel ansammeln. Durch bestimmte Rezeptoren auf der Oberfläche sind solche Zellen durch Immunzellen angreifbar, und de Grey ist davon überzeugt, dass die Wissenschaft eines Tages solche Immunzellen gezielt wird herstellen können. So oder auf einem anderen Weg wird es möglich sein, die unerwünschten Zellen gezielt abzutöten.

3. Mutationen in Chromosomen: Die schädlichste Auswirkung von Mutationen in Zellen ist die Entstehung von Krebs. Die Unsterblichkeit der Krebszellen hat etwas mit den Telomeren zu tun, einer Art Schutzkappe auf den Chromosomen-Enden. Die Telomere werden mit jeder Zellteilung ein Stück kürzer, darauf scheint die Sterblichkeit von Zellen zu beruhen. Wenn wir das Gen für Telomerase eliminieren könnten, also für das Enzym, das die Telomere verlängert und erhält, dann würden die Krebszellen sterben. De Greys Lösung für das Problem besteht darin, die Stammzellen eines Menschen etwa alle zehn Jahre durch solche auszutauschen, die das Gen nicht in sich tragen.

4. Mutationen in den Mitochondrien. Mitochondrien sind die Mikromaschinen, die von den Zellen benötigte Energie produzieren. Sie enthalten kleine Mengen von DNA, die für Mutationen besonders anfällig ist, da sie sich außerhalb der Chromosomen des Zellkerns befindet. De Grey schlägt vor, die 13 Gene der Mitochondrien-DNA in die DNA des Zellkerns zu kopieren, wo sie weitaus besser vor mutagenen Einflüssen geschützt wären.

5. Die Ansammlung von "Abfall” im Zellinneren: Gemeint ist eine bunte Mischung zellulärer Abbauprodukte, die sich in den Lysosomen ansammelt. Lysosomen sind Strukturen im Zellinneren, winzige Abteilungen, in denen größere Moleküle verdaut werden. In ihnen endet für gewöhnlich der unverdauliche Rest und verursacht in bestimmten Zelltypen Probleme. Zu den größten zählt Artherosklerose, die Verhärtung von Arterien. Diesem Übel möchte de Grey begegnen, indem er die Lysosomen mit Genen versorgt, die für zusätzliche Enzyme kodieren, die das unliebsame Material verdauen können. Diese Gene werden aus bestimmten Bodenbakterien stammen - eine Idee, die auf der Beobachtung beruht, dass sich derartige Abbauprodukte nicht in vergrabenen Tierkadavern anhäufen.

6. Die Ansammlung von "Abfall” außerhalb der Zellen: In der Flüssigkeit, die Zellen umgibt -- man nennt sie extrazelluläre Flüssigkeit -- können sich mit der Zeit Proteinaggregate ansammeln, die nicht weiter abgebaut werden. Das Ergebnis ist ein Stoff namens Amyloid, den man im Gehirn von Menschen mit Alzheimer findet. Dem möchte de Grey mit einer Impfung begegnen. Der bislang noch nicht entwickelte Impfstoff soll das Immunsystem zur Bildung von Zellen anregen, die das schädliche Material beseitigen.

7. Vernetzungsreaktionen in Eiweißstoffen außerhalb der Zellen: Die extrazelluläre Flüssigkeit enthält viele biegsame Eiweißmoleküle; sie liegen dort über einen langen Zeitraum hinweg unverändert vor, und je nach Bedarf können sie ein Gewebe elastisch oder durchsichtig machen, oder auch ihm hohe Zugfestigkeit verleihen. Im Laufe eines Lebens werden die Eigenschaften dieser Moleküle durch gelegentlich auftretende chemische Reaktionen beeinträchtigt. Dazu gehört auch die Ausbildung von sogenannten "Cross-Links” (Quervernetzungen): Zwei Eiweißmoleküle werden chemisch verbunden und sind nun nicht mehr unabhängig voneinander beweglich. Das betroffene Gewebe ist dadurch weniger elastisch oder auch verdickt. Handelt es sich dabei beispielsweise um eine Arterienwand, dann kann deren verminderte Dehnbarkeit zu Bluthochdruck führen. De Greys Lösung für dieses Problem besteht in der Suche nach chemischen Wirkstoffen oder Enzymen, die die Quervernetzung aufbrechen können, ohne sonst etwas zu beschädigen.

Auch bei dieser verkürzten und vereinfachten Darstellung wird klar, dass es sich bei diesen sieben Faktoren um hochkomplexe biologische Probleme mit noch komplexeren Lösungsvorschlägen handelt. Zumindest einige der Lösungen könnten sich als unzureichend erweisen, andere als nicht durchführbar. Darüber hinaus sind de Greys Anleitungen mit solch vagen Ausdrücken wie "Wachstumsfaktoren” oder "das Immunsystem stimulieren” durchsetzt. Sie sind im Grunde nicht mehr als Schlagworte, wie zum Beispiel, wenn er von den noch zu entdeckenden "chemischen Wirkstoffen, die die Quervernetzung aufbrechen können, ohne sonst etwas zu beschädigen” spricht.

Es muss betont werden, dass die Wissenschaft bislang keines dieser Probleme auch nur im Ansatz gelöst hat. In mehreren Fällen hat es aber immerhin schon viel versprechende Ergebnisse gegeben. Die Erforschung extrazellulärer Quervernetzungen etwa hat mehrere Kandidaten für Medikamente hervorgebracht: Die Firma Alteon aus dem Bundesstaat New York hat mit klinischen Tests begonnen, bei denen Moleküle erprobt werden, die altersbedingte Leiden rückgängig machen sollen. Was andere von de Grey benannte Probleme betrifft -- zum Beispiel die Kontrolle der Telomer-Länge oder der Transfer von mitochondrialer DNA in den Zellkern --, können Molekularbiologen eigentlich nur über den Tag spekulieren, an dem solche Versuche einmal Früchte tragen werden, falls das überhaupt je der Fall sein wird.

Doch davon lässt sich de Grey nicht entmutigen. Durch Pessimismus verliert man seiner Meinung nach nur Zeit. Als "Luftschlösser” hat ein von mir befragter Gerontologe de Greys Rezepte bezeichnet. Bei de Grey dagegen zergeht dieser Ausdruck geradezu auf der Zunge, allein schon die Hoffnung erwärmt ihm die Seele.

Doch mit seiner Wissenschaft sollen sich andere auseinandersetzen. Ich war auf etwas gänzlich Anderes aus: Welche Art von Mensch, so fragte ich mich, würde einen überragenden Intellekt und eine offensichtlich unerschöpfliche Konstitution einem solchen Projekt widmen? Nicht nur die wissenschaftliche Fundierung erscheint dabei reichlich spekulativ. Fragwürdiger noch ist die Prämisse, auf der das gesamte Unternehmen beruht -- nämlich dass die Aussicht auf ein unbeschränkt langes Leben ein Segen für die Menschheit wäre.