Wollen Sie ewig leben?

Seite 7: Wollen Sie ewig leben?

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Ist es wahrscheinlich, dass das Bild einer langlebigen Maus auf der Titelseite jeder Zeitung rund um den Erdball einhellige Begeisterung in der Öffentlichkeit auslösen würde? Ich bezweifle es. Eher wäre der Beifall mit Entsetzen durchmischt. Ethiker, Ökonomen, Soziologen, Geistliche und viele besorgte Wissenschaftler würden sich sicherlich zusammen mit einer großen Zahl besorgter Bürger zu einer Gegenbewegung formieren. Akzeptieren wir freilich De Grey oberstes Prinzip, nach dem die Sehsucht nach ewigem Leben jede menschliche Entscheidung bestimmt, dann werden persönliche Interessen -- manche würden es Narzissmus nennen - letztlich die Oberhand gewinnen.

De Grey prognostiziert, dass wir 15 Jahre, nachdem wir Mäuse verjüngt haben, damit beginnen könnten, den Alterungsprozess in Menschen umzukehren. Ersten, begrenzten Erfolgen würden dramatischere Durchbrüche folgen, so dass heute lebende Menschen das erreichen würden, was de Grey die "Fluchtgeschwindigkeit der Lebensverlängerung” nennt. De Grey räumt ein, dass es 100 Jahre dauern könnte, bis wir die menschliche Lebensspanne ernsthaft erweitern können. Er bestreitet aber, dass es noch wahrscheinlicher nie dazu kommen wird.

Er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass die Chancen für ihn äußerst schlecht stehen. Genauso wenig kann er sich vorstellen, dass nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch die Gesellschaft gegen ihn sein könnte. Jedem Leser oder Zuhörer erklärt er schlüssig, warum es unter seinen Anhänger so verdächtig wenig etablierte Gerontologen gibt. Gegen jede Art von fundierter Kritik, die ihn zu einem Überdenken der eigenen Vorschläge zwingen würde, hat er sich bereits vorsorglich abgesichert, durch eine Weltanschauung, die ihn unangreifbar macht. Von ihr weicht er nicht einen Millimeter ab. Er lässt auf keinen Fall auch nur die Möglichkeit gelten, dass eines der Hindernisse sich als unüberwindlich erweisen könnte.

All das klingt eigentlich nach einem unsympathischen Menschen. Doch ein wichtiger Faktor für de Greys Erfolg ist weniger seine Wissenschaft als vielmehr er selbst. Es ist unmöglich, de Grey nicht zu mögen, wie ich während unseren beiden Treffen im Eagle gemerkt habe. Er mag hemmungslos gegen jeden wettern, der nicht mit ihm übereinstimmt -- irgendwie ist der Mann dabei einfach süß. Hinzu kommt sein mangelndes Interesse für Äußerlichkeiten, die entwaffnend aufrichtige Hingabe an seine Ziele, und so entsteht eher das Bild eines Genies als das eines falschen Propheten in eigener Sache. Selbst seine Kritiker können nicht umhin, ihn zu mögen, was angesichts des offensichtlich schrägen Vogels unerwartet ist.

Doch die nettesten Exzentriker sind manchmal die Gefährlichsten. Vor vielen Jahrzehnten dachte ich in meiner Naivität und Unwissenheit, unser Planet würde irgendwann das Opfer einer himmlischen Katastrophe: die Kollision mit einem riesigen Meteor, das Verglühen der Sonne -- irgendetwas in der Art. Im Lauf der Zeit änderte ich meine Meinung und nahm eher an, das Ende der Tage würde durch die Böswilligkeit eines wahnsinnigen Diktators herbeigeführt werden: Atombomben, künstlich erschaffene Mikroorganismen -- etwas in der Art. Doch meine Vorstellung von "etwas in der Art” hat sich verändert. Sollten wir vernichtet werden, davon bin ich jetzt überzeugt, dann wird das nicht durch eine neutrale oder böswillige Macht geschehen, sondern vielmehr durch eine extrem gutwillige, die nur die Verbesserung von uns und unserer Zivilisation im Sinn hat. Sollten wir je zugrunde gehen, dann durch die gut gemeinten Bemühungen von Wissenschaftlern, die nur unser Bestes wollen.

Wir wissen bereits, um wen es sich handelt. Es sind die DNA-Optimierer, die Eltern die Wahl über die genetische Ausstattung all ihrer zukünftigen Nachkommen geben wollen, ohne die Möglichkeit zu bedenken, dass das Ausmerzen bestimmter Eigenschaften das Überleben der gesamten Spezies und ihre gesunden Beziehungen zu jeder anderen Lebensform auf diesem Planeten gefährden könnte. Es sind die Biogerontologen, die eine Reduzierung der Kalorienzufuhr bei Mäusen untersuchen und uns eine um 20 Prozent verlängerte Existenz als merkwürdig ernährte Kreatur versprechen, wenn wir ebenfalls fasten; es sind diese anderen Biogerontologen, die jeden Abend voller Optimismus aus ihren molekularbiologischen Labors kommen, dem Ziel eines verlängerten Lebens ein Stück näher gekommen zu sein, und die dabei das Chaos herunterspielen, das ihre Manipulation sowohl auf zellulärer als auf gesellschaftlicher Ebene anrichten könnte.

Und schließlich ist es die einzigartige und auf seltsame Weise faszinierende Figur Aubrey de Grey, der unermüdlich schreibt und auf jeden einredet, der noch nicht vollends von seinen Ideen überzeugt ist, der wie ein zerzauster Botschafter einer neuen Zukunft verkündet, unser unveräußerlichstes Recht bestünde in der Möglichkeit, so lange zu leben wie wir es wollen. Mit der Leidenschaft eines Eiferers, der sich durch nichts von seinem Kreuzzug gegen die Zeit abringen lässt, ist er in meinen Augen letztlich die ultimative Herausforderung für unser Konzept von Menschlichkeit.

Paradoxerweise ist der Ruf seiner Fanfare nicht der eines Wahnsinnigen oder bösen Menschen, sondern der eines brillanten, gutherzigen Menschen voll guter Absichten, der nichts weiter will, als dass unsere Zivilisation das Beste bekommt, das er sich für sie vorstellen kann. Ich sehe es als Glück, dass seine hochfliegenden Pläne mit größter Wahrscheinlichkeit scheitern werden. Andernfalls würde de Greys Versuch uns zu erhalten mit Sicherheit zu unserer Vernichtung führen.

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Sherwin Nuland ist Professor für klinische Chirurgie an der School of Medicine der Yale Universität und unterrichtet Bioethik. Er ist der Autor des Buches How We Die, das in den Vereinigten Staaten 1994 den National Book Award gewonnen hat. Nuland schreibt für mehrere Magazine, darunter auch den New Yorker. (sma)