Kommentar: Stärkt endlich den ÖPNV

Wer es mit der Verkehrswende ernst meint und weniger Autos in der Stadt haben will, muss den Nahverkehr ausbauen – mit allem, was dazugehört.

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S-Bahn Berlin

(Bild: Pierre Adenis / Deutsche Bahn AG)

Lesezeit: 9 Min.
Inhaltsverzeichnis

Das von einigen Menschen als erstrebenswerte Zukunft erachtete Bild, in dem wir uns in Großstädten nur noch zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Öffentlichen Personennahverkehr fortbewegen, bekommt immer dann Risse, wenn der Betrachter es mit der oftmals gar nicht so hübschen Realität abgleicht. So kann es fraglos sehr angenehm sein, sich per Pedes oder Rad seine Wege zu suchen. Machen wir uns aber bitte nichts vor: Einmal abgesehen davon, dass dazu nicht jeder in der Lage ist, wird ein relevanter Teil spätestens unter widrigen Umgebungsvariablen ein Transportmittel wählen, dass ihm weniger abverlangt. Manch einer mag diese Suche nach dem Weg des geringsten Widerstandes ächten, letztlich siegt bei der Mehrheit aber die Bequemlichkeit.

Aktuell bedeutet das ziemlich oft: "Ich nehme das Auto." Falls es eines Beweises dieser These bedarf, möge sich der Zweifler die Verhältnisse im Berufsverkehr ansehen. Angesichts einer fortschreitenden Wohnraumverdichtung auf der einen und immer längeren Pendelstrecken auf der anderen Seite erscheint die Dominanz des Pkws zwar auf den ersten Blick logisch, aber nicht nachhaltig. Wer im komplizierten Geflecht der Verkehrsströme in einer Großstadt das Auto weniger bedeutsam machen möchte – und dafür spricht einiges – muss den Nahverkehr stärken. Im Wesentlichen sind es fünf Kernpunkte, an denen diesbezüglich gearbeitet werden müsste: Zuverlässigkeit, reale Reisedauer, Preise und damit verbunden auch Preistransparenz, Komfort und Sicherheit. Naheliegenderweise wird nicht jeder jeden dieser Punkte gleich gewichten, zumal es in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte gab.

Der Witz mit den vier größten Feinden der Bahn hat die Bartlänge der Herrscher in Afghanistan und soll deshalb hier nicht erneut aufgerollt werden. Dabei könnten die Verkehrsbetriebe immer dann ganz unauffällig für sich werben, wenn die Straßenverhältnisse es nahelegen, das eigene Auto stehenzulassen. Doch leider schwächelt genau dann oft auch der ÖPNV. Züge, die keinen Frost vertragen, vereiste Weichen, Menschen, die Gleise für Spazierwege halten – die Liste ist lang und die Verkehrsbetriebe haben durchaus nicht an allem Schuld, was sich ihnen da in den Weg stellt.

Der Nahverkehr muss mit widrigen Bedingungen zurechtkommen. Nicht immer einfach, aber machbar, was nicht zuletzt große regionale Unterschiede in dieser Hinsicht zeigen.

(Bild: Uwe Miethe / Deutsche Bahn AG)

Doch als Kunde interessiert mich nur sekundär, was da gerade wieder einmal los ist. Ich muss zu meinem Ziel. Wenn der Geschäftsmann innerhalb von vier Wochen den dritten Termin verpasst, weil die Verkehrsbetriebe ihn nicht transportiert haben, sind die Hintergründe für ihn nachrangig.

Zu diesem Kapitel gehört natürlich auch die Pünktlichkeit. Grundsätzlich sind die Verkehrsbetriebe hier – wie auch die Bahn insgesamt – erheblich besser als ihr Ruf. Sie könnten es sich und ihren Kunden jedoch viel einfacher machen, wenn mit Verspätungen transparenter umgegangen würde. Ob man es dabei so weit treiben muss wie die Japaner, in deren Nahverkehr sich die Betreiber entschuldigen, wenn das Verkehrsmittel auch nur eine Minute Verspätung hat, glaube ich nicht. Doch mitunter wäre es geschickt, wenn die Verkehrsverbünde verraten würden, warum der Kunde wartet und eine Abschätzung liefern würde, wie lange. Das verkürzt die Wartezeit an sich nicht eine Minute. Doch diese Offenlegung würde hier und da dazu führen, dass die Kunden mehr Verständnis hätten – zumindest einige von ihnen.

Die Verkehrsbetriebe könnten es sich etwas leichter machen, wenn sie transparenter darlegen würden, wo es gerade hakt.

(Bild: Volker Emersleben / Deutsche Bahn AG)

Die Verbindung zwischen zwei Bahnhöfen gelingt schon heute meist sensationell rasant. Als ich mir vor ein paar Jahren ein Auto auf der anderen Seite einer Großstadt abholen durfte, kostete mich der Hinweg mit dem ÖPNV etwa 20 Minuten, der Rückweg im Pkw dagegen mehr als eine Stunde. Es liegt jedoch nahe, dass nicht alle Ziele rund um Bahnhöfe abgelegt sind. Meine Verhältnisse sind in dieser Hinsicht ausdrücklich nicht repräsentativ, allerdings auch nicht einzigartig: Die schnellste Verbindung ins Büro kostet mich ohne Auto rund etwas mehr als zwei Stunden – im günstigsten Fall und selbstverständlich auch nur dann, wenn alle Anschlüsse so funktionieren, wie im Fahrplan vorgesehen. Mit dem Auto sind es im Normalfall rund 45 Minuten.

Das Tempo zwischen Bahnhöfen ist in der Stadt oftmals konkurrenzlos, die Reisedauer ist es meist nicht.

(Bild: Axel Hartmann / Deutsche Bahn AG)

Mittelfristig wird sich das Tempo ohne eine Netzverdichtung kaum steigern lassen. Dafür müssten zwei Dinge angegangen werden: Das Planungsrecht muss vereinfacht werden. Zudem braucht es Politiker, die sich bei unpopulären Entscheidungen nicht hinter Aktenbergen verstecken, sondern sich der, sicher oftmals unangenehmen, Diskussion vor Ort stellen. Denn viele finden eine Netzverdichtung des ÖPNV ganz großartig – bis die neue Bushaltestelle dann vor der eigenen Tür geplant wird.

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Doch ohne eine Baubeschleunigung schon in der Planungsphase wird es nicht gehen. Denn Großprojekte wie die zweite Stammstrecke in München oder der über Jahrzehnte geplante Ruhrschnellweg RRX müssen viel schneller umgesetzt werden als in der Vergangenheit. Es ist ein Unding, dass bis heute in Speckgürteln ganze Siedlungen in den Boden gerammt werden, ohne dass bei den Planungen im Vordergrund steht, wie Neuankömmlinge, die kein Auto haben, ihre Ziele erreichen.

Gute Arbeit sollte ordentlich bezahlt werden, und viele Mitarbeiter in den Verkehrsbetrieben leisten diese ohne Frage. Ich sehe das Experiment, den ÖPNV komplett aus Steuergeldern zu finanzieren, kritisch, weil ich die Bedenken teile, dass er so eine noch geringere Wertschätzung erfährt als aktuell ohnehin nur. Doch wenn ich für eine Fahrt von Grafing zum Münchener Hauptbahnhof, die günstigstenfalls 25 Minuten dauert, ab acht Euro aufwärts einplanen muss, fühle ich mich ein wenig untervorteilt.