Web-Summit-Resümee: Die Woke-Washing-Maschine des Neoliberalismus

Auf dem Web Summit lockten Start-ups neue Investoren mit einem Buzzword-Bingo aus KI, Diversity, Inklusion und Klimarettung. Es fehlt an kritischer Reflexion.

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Die neue Chefin des Web Summit Katherine Maher stellte auf einer Pressekonferenz des Web Summit klar, dass Sie die Konferenz künftig anders zu führen gedenke als ihr Vorgänger Paddy Cosgrave.

(Bild: Hartmut Gieselmann)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Es gab Zeiten, da wurden auf dem Web Summit aktuelle Entwicklungen in der IT-Branche kritisch und kontrovers diskutiert. Etwa 2019, als die damalige EU-Kommissarin Margrethe Vestager den Internet-Monopolisten von Google, Meta, Apple und Amazon den Kampf ansagte, oder im vergangenen Jahr, als Noam Chomsky die Scaling-Hypothese von KI-Firmen wie OpenAI anzweifelte. Dieses Jahr fehlten solch prominente Kritiker wie auch Edward Snowden, um der IT-Industrie und den Regierungen einen kritischen Spiegel vorzuhalten.

Zwar forderte die neue Web-Summit-Chefin Katherine Maher mehr Diskussionen für einen freien und respektvollen Meinungsaustausch zu allen Themen, doch ohne Meta, Google, Amazon & Co. hatten auch deren Kritiker in dieser Woche offenbar Besseres zu tun.

Was blieb, war ein Schaulaufen einer noch größeren Zahl von Start-ups, die mit ihren Marketingfirmen um das Geld von Venture-Capital-Investoren und EU-Fördertöpfen buhlten. Zu den unumgänglichen Themen gehörten weiterhin Bitcoin, Blockchain, NFTs und das Metaverse. Neben künstlicher Intelligenz stand aber vor allem die "Wokeness" im Vordergrund: Jedes Start-up und jedes Unternehmen versuchte sich als besonders inklusiv, divers, frauen- und umweltfreundlich darzustellen. Denn diese Bulletpoints muss man anscheinend erfüllen, um in die engere Auswahl bestimmter Finanzfonds und Risikokapitalgesellschaften wie – nomen est omen – Diversity VC zu kommen.

Wie groß die Konkurrenz ist, verdeutlichen die Zahlen des European Innovation Council (EIC): Von über tausend Bewerbern um Förderinvestitionen wurden nur sechs bis sieben Prozent angenommen. Damit gehen über 90 Prozent der Start-ups leer aus.

Noch härter war der Kampf beim Pitch-Wettbewerb des Web Summit: Von den über 2600 Start-ups, die am Web Summit teilnahmen, durften nur 105 pitchen, von denen es schließlich acht ins Halbfinale und drei ins Finale schafften: Inspira, die in Brasilien einen KI-Copiloten für Juristen entwickeln, mit dem diese angeblich zehnmal mehr Fälle bearbeiten können, gewann vor Kinderpedia aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die es Lehrern ermöglichen, Schüler per App zu unterrichten, und Cognimate, die in den USA Reha-Apps für Schlaganfallpatienten entwickeln, mit denen diese spielerisch Handbewegungen trainieren können. Letztlich wurden die Gewinnaussichten eines Legal-Tech-Unternehmens höher eingeschätzt als die eines Bildungs- oder Gesundheitsunternehmens.

Was in diesem äußerst zermürbenden Konkurrenzkampf der Start-ups auf der Strecke blieb, waren Fragen nach den Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter und Zulieferer, nach sozialer Absicherung, der Bildung von Betriebsräten und anderen Interessenvertretungen. Stattdessen wurde von Investorenseite gefordert, staatliche Regulierungen und Steuern weiter abzubauen. Albert Wenger von Union Square Ventures sagte, er habe kein Problem damit, bis zu 15 Stunden am Tag zu arbeiten, und brauche keine Gesetze, die ihm das verbieten. Als Manager einer Risikokapitalgesellschaft ist er wahrscheinlich motivierter und steht weniger unter wirtschaftlichem Druck als etwa die Reinigungskräfte in seinem Büro, die Schutz vor zu langen Arbeitszeiten wohl durchaus zu schätzen wissen dürften.

Dass man mit zur Schau gestellten Wokeness sein Image aufpolieren kann, zeigte sich auch bei den Auftritten von PepsiCo, die ihre angeblich nachhaltig aufgebauten Lieferketten, ihr kompromissloses "commitment to climate change" und einen Frauenanteil von 50 Prozent bewerben konnten, ohne unangenehme Fragen nach ihrem enormen Verbrauch von Palmöl oder ihren Plastikverpackungen beantworten zu müssen, für die sie zu den größten Plastiksündern der Welt gezählt werden.

Einen der größten Stände auf dem Web Summit hatte Shell aufgebaut, die ihre Bemühungen in KI, erneuerbare Energien oder auch Mikroplastik-fressenden Organismen zeigten. Unerwähnt blieb allerdings, dass Shell im vergangenen Jahr von der Deutschen Umwelthilfe mit dem Goldenen Geier für die dreisteste Umweltlüge ausgezeichnet wurde, weil Shell das Gewissen der Autofahrer mit einer CO₂-Abgabe von 1,1 Cent pro Liter Benzin beruhigen wollte.

Symptomatisch für den Umgang der Marketingbranche mit dem Thema Umweltschutz war David Garrido von Sky Sports, der Fußballtrikots mit bunten Streifen vorstellte, die die Fans auf den Klimawandel aufmerksam machen sollten.

Umweltaktivismus Web-Summit-Style: Ein Moderator von Sky Sports stellt gestreifte Trikots vor, deren Farben die Klimaerwärmung symbolisieren sollen.

(Bild: Web Summit)

Wenn die neue Chefin Katherine Maher es ernst meint mit ihrem Wunsch nach einer besseren und ehrlicheren Debattenkultur auf dem Web Summit, sollte sie in den kommenden Jahren auch Umweltverbände und Gewerkschaften einladen, die Werbeaussagen der Unternehmen kritisch zu hinterfragen.

Es gab noch eine Reihe weiterer Themen, die durchaus kontrovers hätten diskutiert werden können:

Die Beiträge des ehemaligen Boxweltmeisters Wladimir Klitschko und seiner Landsfrau Iryna Volnytska von der SET University machten unverblümt deutlich, wie wenig Interesse sie an einem schnellen Ende des Krieges mit Russland am Verhandlungstisch haben. Laut Volnytska ist die IT-Branche in der Ukraine im vergangenen Kriegsjahr um sieben Prozent gewachsen. Insbesondere im Bereich der Militärtechnik sei die Ukraine zu einem Experimentierfeld für technologische Kriegsführung geworden, in dem beispielsweise die Abwehr russischer Hackerangriffe erprobt werde. Die Ukraine sei ein "Sandkasten", in dem der Westen seine Waffensysteme testen könne, um sich für eine spätere Konfrontation mit Russland zu wappnen. Volnytska stellte Investoren lukrative Vorteile bei Investitionen in ukrainische IT- und Militärtechnologie in Aussicht.

Klitschko verglich den Krieg mit einem Boxkampf: Es sei die achte von zwölf Runden und man dürfe nicht nachlassen, Schläge auszuteilen. Man dürfe auch keine russischen Sportler zu den kommenden Olympischen Spielen zulassen, weil diese oft vom Militär beschäftigt würden. Kompromisse, wie sie typischerweise in diplomatischen Gesprächen über Waffenstillstände und Friedensabkommen ausgehandelt werden, bezeichnete Klitschko als "Zeitverschwendung" und erntete dafür Applaus.

Lissabon warb auf dem Web Summit mit seiner großen Zahl an so genannten Unicorns: Start-ups, die noch vor dem Börsengang einen Marktwert von über einer Milliarde US-Dollar erreichen. Ein gutes Dutzend davon sei bereits in Lissabon ansässig, sieben aus Portugal, fünf hätten ihren Hauptsitz aus dem Ausland in die Stadt verlagert. Angelockt werden ausländische Unternehmen und Selbstständige durch niedrige Steuersätze von 20 Prozent sowie Doppelbesteuerungsabkommen mit einigen Ländern, die im Extremfall zu einer völligen Steuerfreiheit führen.

Dadurch kommen zwar viele Unternehmen und Selbstständige ins Land, aber der öffentlichen Hand fehlen die Mittel. In Lissabon haben wir das als Besucher des Web Summit an den täglichen Staus zu spüren bekommen. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind dem Ansturm kaum noch gewachsen. Morgens und abends quälen sich endlose Blechlawinen durch die engen Straßen der Innenstadt. Selbst Busse und Bahnen bleiben stecken.

Vor vier Jahren stellte VW in einem Pilotprojekt auf dem Web Summit in Lissabon ein neues Navigationssystem auf Quanten-Annealern vor, das Staus auflösen und den Verkehrsfluss optimieren sollte. Doch wenn alle Straßen verstopft sind, nützt auch das beste Navi nichts.

Man darf gespannt sein, inwieweit der kurzfristige Personalwechsel an der Spitze des Web Summit auch den von Katherine Maher versprochenen Kurswechsel einläuten wird – und ob ihr Navi sie in die richtige Richtung führt.

(hag)