Die X-Akten der Astronomie: Das Rätsel der Braunen Riesen

Seite 3: Stellarer Infantizid

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Daher gehen Spezzi und ihr Team davon aus, dass sie wirklich eine neue Klasse von übergroßen, kühlen Vorhauptreihensternen nachgewiesen haben – Sterne von 0,2 bis 1 Sonnenmasse mit den Oberflächentemperaturen von Braunen Zwergen, aber entsprechend größer, um dennoch mit einer halben bis einer Sonnenleuchtkraft zu strahlen. Aber wie sollen die Bloatare entstanden sein?

Die Astronomen schlagen als Erklärung vor, dass die Sterne vor kurzem Masse aufgenommen haben, die sie in einen großvolumigen Kokon aus optisch dickem Gas einhüllt, eine "falsche Photosphäre" (als Photosphäre bezeichnet man die leuchtende Oberfläche eines Sterns). Und zwar durch das Vertilgen eines großen Gasplaneten, eines heißen Jupiters.

Gasplaneten wie Jupiter entstehen nicht in der Nähe eines Sterns, denn dort können flüchtige Gase und Wasser, die sich erst bei tiefen Temperaturen an Staub anlagern können, nicht überdauern. Der Stern taut sie auf und bläst sie mit seinem Sternwind fort. Genau aus solchen Stoffen bestehen die Gasriesen aber größtenteils, das heißt sie müssen in größerer Entfernung vom Stern entstehen. Es war deswegen eine große Überraschung, dass die ersten in der zweiten Hälfte der 1990er aufgespürten Exoplaneten Gasriesen waren, die ihre Sterne binnen weniger Tage in weit geringerem Abstand umrunden, als Merkur die Sonne umkreist – man nannte sie "heiße Jupiter".

Mittlerweile wissen wir, dass die Planeten mit der Gas- und Staubscheibe, aus der sie entstanden sind, interagieren und massereiche Planeten dabei nach innen zu wandern neigen, während sie sich die Asteroiden in der Scheibe einverleiben oder bevorzugt nach außen katapultieren. Im Sonnensystem hat vermutlich Saturn verhindert, dass Jupiter die inneren Planeten des Sonnensystems mit abgeräumt hat, aber anderswo dürfte es durchaus öfter vorkommen, dass ein Riesenplanet binnen weniger Millionen Jahre nach seiner Entstehung auf seinen Stern stürzt.

Der Gasplanet würde an der Roche-Grenze, wo die Gezeitenkraft des Sterns den gravitativen Zusammenhalt des Planeten übersteigt, allmählich abgetragen werden und eine schnell rotierende ellipsoide Gashülle mit dem Radius der Planetenbahn um den Stern bilden. Diese wäre optisch dick und würde sich durch die Strahlung des Sterns aufheizen, bis sie über ihre größere Oberfläche dieselbe Leistung abstrahlte, die der von ihr umschlossene Stern lieferte – dies begründet die niedrigere Temperatur der falschen Photosphäre gegenüber der echten des Sterns. Nach Berechnungen der Astronomen würde ein Planet von einer Jupitermasse durch die Hitze des Sterns auf etwa 1,5 Jupiterradien anschwellen und dann so weit vom Stern zerlegt werden, dass die falsche Photosphäre in diesem Radius eine Temperatur von 1470 K bis 2490 K für Sterne zwischen 0,5 bis 1,0 Sonnenmassen annehmen würde, was gut zu den Messungen passen würde.

Die im Vergleich zum Stern geringe Masse des heißen Jupiters, der nur 1/100 bis 1/1000 der Masse des Sterns zusammen brächte, wäre nach den Berechnungen ausreichend, das Volumen der falschen Photosphäre dicht genug zu füllen, sodass diese für eine Aufheizung hinreichend optisch dick wäre. Die Astronomen schreiben in ihrer Arbeit, man könne ihre Theorie verifizieren, indem man nachwiese, dass die Bloatare in der Äquatorgegend sehr schnell rotierten, weil sie den Drehimpuls des Planeten aufgenommen haben müssten.

Aber warum wurde vorher noch kein Bloatar gefunden? Das Spezzi-Team verweist zunächst darauf, dass das Szenario, bei dem ein (üblicherweise älterer, zum Riesen angeschwollener) Stern einen ihn umkreisenden Gasplaneten verschlucke und dabei seine Atmosphäre vergrößere, aus früheren Arbeiten schon bekannt sei. Die berechnete Lebensdauer der falschen Photosphäre sei mit nur 50.000 Jahren im Vergleich zur ersten Phase der Entwicklung von Planetensystemen von 1 bis 3 Millionen Jahren sehr kurz, also wäre statistisch gesehen nur ein kleiner Teil von rund 1 Prozent der infrage kommenden Sterne in Sternentstehungsgebieten zur gleichen Zeit in dieser Phase zu erwarten.

Und alle in der Nähe der Sonne befindlichen Sternentstehungsgebiete, die so junge Sterne enthalten, seien um einen Faktor 10 und mehr kleiner als NGC 3603, so dass man günstigstenfalls vier solche Objekte in so einer Region erwarten würde. Und die seien anscheinend bei bisherigen spektroskopischen Untersuchungen, die oft nicht die kompletten Sternhaufen erfasst haben, übersehen worden und bei der Photometrie mit normalen heißeren Vorhauptreihensternen verwechselt worden.

Das sind ziemlich starke Behauptungen und bei meinen Recherchen fand ich keine weitere Arbeit, die auf die Bloatare Bezug nimmt, die Arbeit steht alleine da. Üblicherweise geht man davon aus, dass von der Gezeitenkraft zerrissene Objekte Akkretionsscheiben um Sterne bilden. Ein Riesenstern, der einen Planeten vereinnahmt, ist ein vollkommen anderes Szenario, weil er aus dünnem Gas besteht, das sich allmählich zum Planeten hin ausbreitet, diesen schließlich einhüllt, durch atmosphärische Reibung bremst und verschluckt, so dass er erst im Inneren des Sterns aufgelöst wird.

Ob es sich bei den neun Objekten wirklich um angeschwollene Sterne niedriger Temperatur mit Wasser in der Atmosphäre handelt, oder doch um eher gewöhnliche Einzel- oder Doppelsterne sollte ein stärkeres Weltraumteleskop wie das in Fertigstellung befindliche James-Webb-Weltraumteleskop durch Spektroskopie der neun mutmaßlichen Bloatare klären können. Es sollte erkennen, ob das Absorptionsband vorhanden ist und ob die Sterne tatsächlich schnell rotieren. Dessen Start ist derzeit für Ende Oktober 2021 geplant, aber er rutscht seit Jahren nach hinten. Wir werden uns wohl noch ein wenig gedulden müssen, bis wir erfahren, ob es Bloatare wirklich gibt, oder ob es eine plausiblere Erklärung für die merkwürdigen Objekte gibt.

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(mho)