Ethik bei autonomen Autos und das Trolley-Problem: Was tut der Weichensteller?

Seite 2: Zwischen Science-Fiction, Jurisprudenz und Realität

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Literarisch wurde ein solches Dilemma in einer zu Recht berühmten Science-Fiction-Story behandelt. Das US-Magazin Astounding druckte 1954 "The Cold Equations" von Tom Godwin. In der Geschichte bringt ein Raumpilot lebenswichtige Medikamente zu Menschen auf einem fernen Planeten. Während des Flugs entdeckt er einen blinden Passagier, eine junge Frau. Ihr Gewicht macht die Rakete zu schwer für eine normale Landung; sie würde beim Aufsetzen zerstört. Die Frau zieht die logische Konsequenz: Noch im All verlässt sie ohne Schutzanzug das Raumschiff.

Drei Jahre vor den kalten Gleichungen brachte die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft in Heft 1/1951 den Aufsatz "Vom Notstandsproblem". Verfasser war Hans Welzel, Juraprofessor an der Universität Göttingen. In diesem Aufsatz führte er das Dilemma des Weichenstellers ein, das wir schon schilderten. Welzel gab gleich die Lösung an: man muss den Waggon umleiten. Denn: "Der Beamte, der das Umstellen der Weiche unterläßt, hat nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch eklatant unrichtig gehandelt."

Bemerkenswert ist der Kontext des Falles. Welzels Artikel hatte nichts mit abstrakter Rechtsphilosophie zu tun, sondern kritisierte ein Urteil des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone. Der OGH, manchmal auch "kleines Reichsgericht" genannt, saß von 1948 bis 1950 in Köln; am 5. März 1949 behandelte es den Fall eines Arztes, der in der Nazizeit die Listen von Euthanasie-Kandidaten überprüfte. Es gelang ihm, viele Kranke von den Listen zu streichen und sie vor dem Tod zu retten. Ganz verhindern konnte er die Vergasungen aber nicht.

Der OGH akzeptierte das Argument der Verteidigung, dass bei einer völligen Verweigerung andere Ärzte die Einweisung in die Tötungsanstalten vorgenommen hätten und das wahrscheinlich in größerem Umfang. Dem Beklagten billigte das Gericht deshalb einen persönlichen Strafausschließungsgrund zu. Das war Hans Welzel zu wenig. Er sah einen übergesetzlichen Notstand und erfand zur Begründung die Geschichte mit dem Weichensteller. Ihm wies er dabei keine rechtliche, sondern nur eine sittliche Schuld zu, die er mit seinem Gewissen und dem lieben Gott klären müsste.

(Bild: Library of Congress)

1967 verfasste die Philosophin Philippa Foot für das Oxford Review den Beitrag "The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect". In jenem Jahr erließ das britische Parlament ein neues Abtreibungsgesetz, und Frau Foot analysierte damit zusammenhängend ethische Fragen und das Prinzip der Doppelwirkung. Dieses befasst sich mit der Zulässigkeit unmoralischer Handlungen. Unter den Beispielen finden wir den "driver of a runaway tram", der seine Straßenbahn auf fünf Gleisarbeiter oder auf einen einzigen lenken kann, "and it seems clear that he should do the least injury he can".

Die dritte Formulierung unseres Problems erschien 1976 in der Zeitschrift Monist unter dem Titel "Killing, Letting Die and the Trolley Problem". Autorin Judith Jarvis Thomson lehrte am Massachusetts Institute of Technology, weshalb aus der englische Tram der amerikanische Trolley wurde. Frau Thomson erweiterte das Problem um einige Facetten, die es immer schrecklicher machten. So treffen wir den dicken Mann, der von einer Brücke auf die darunter liegenden Schienen gestoßen wird. Die Straßenbahn überfährt ihn und kommt auf diese Weise zum Stehen.

Was lernen wir daraus? Erstens: Das Trolley-Dilemma ist eine Wahl zwischen zwei Übeln, bei der der Entscheider selbst nichts erleidet. Zweitens gilt das Gesetz der kleineren Zahl: Hans Welzel und Philippa Foot würden die Weiche umstellen, um die Zahl der Opfer zu verringern. Drittens zeigen die Texte den fiktiven, ja spielerischen Charakter des Problems, und es existiert kein wirklich treffendes konkretes Beispiel. Hier möchten wir das Trolley-Problem von Selbstopfern aller Art abgrenzen und von militärischen Planungen, bei denen die Verluste der Aktionen abgeschätzt werden.

Schwierige Entscheidungen gibt es viele, man denke an die Triage nach schweren Katastrophen oder an die Auswahl von Empfängern für transplantierte Organe. Doch helfen sie uns weiter? Moralische Konflikte machen sich gut im Theater, das Vergnügen an tragischen Gegenständen empfand schon Friedrich Schiller. Für eine künstliche Intelligenz ist es weniger geeignet. Wer autonome Autos programmieren will, sollte also realer Verkehrsunfälle studieren, mit Kindern, die aus einem Schulbus in Indiana rennen, oder einem betrunkenen Fußgänger in Fulda. (mho)