Künstliche Muskeln erzeugen Kälte im Mini-Kühlschrank

Ein Forscherteam im Saarland hat ein kleines Kühlgerät konstruiert, das auf Grundlage von Elastokalorik mit Formgedächtnisdrähten aus Nickel-Titan arbeitet.

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Künstliche Muskeln

Die sogenannten künstlichen Muskeln, die sich durch Spannen und Entspannen zum Kühlen und Heizen nutzen lassen, bestehen aus Nickel-Titan-Formgedächtnisdrähten.

(Bild: Oliver Dietze)

Lesezeit: 6 Min.

Im weltweit ersten Kühlschrank auf elastokalorischer Basis hat nur eine Flasche Platz. In dieser Hinsicht würde das kleine Gerät des Teams um Stefan Seelecke und Paul Motzki nicht als Verkaufsschlager taugen. Sein Clou besteht aber darin, dass es weder mit einem Kompressor noch mit Peltier-Elementen kühlt, sondern mit sogenannten künstlichen Muskeln – nämlich mit Drähten, die unter Zugbelastung gesetzt und dann wieder entlastet werden. Die sogenannten Formgedächtnisdrähte bestehen aus der superelastischen Legierung Nickel-Titan. Dabei macht man sich das physikalische Prinzip der Elastokalorik zunutze. In der Kühlkammer nehmen die Drähte in der Entspannungsphase Wärme auf, die sie anschließend beim Gezogenwerden wieder nach außen abgeben. Das Forschungsteam entwickelt seine klimaschonende Kühl- und Heiztechnik, die weit energieeffizienter und nachhaltiger als die heute üblichen Verfahren zur Temperaturbeeinflussung sein soll, im Rahmen mehrerer Projekte an der Universität des Saarlandes und am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA gGmbH) in Saarbrücken, wo Motzki den Forschungsbereich "Smarte Materialsysteme" leitet.

Das Team der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki hat an der Universität des Saarlandes und am ZeMA in Saarbrücken eine klimaschonende Heiz- und Kühltechnik auf elastokalorischer Basis entwickelt.

(Bild: Oliver Dietze)

"Mit unserem Verfahren erreichen wir beim Kühlen Temperaturdifferenzen von rund 20 Grad Celsius ohne klimaschädliche Kältemittel", erklärt Seelecke. Elastokalorische Materialien sollen einen mehr als zehnmal so großen Wirkungsgrad erreichen wie konventionelle Klimaanlagen oder Kühlschränke. Wie die Forscher stolz anmerken, hat das Energieministerium der USA ebenso wie die EU-Kommission bereits die Saarbrücker Klimatechnik unter die Lupe genommen und sie als zukunftsträchtigste Alternative zu den bisherigen Verfahren eingestuft. Elastokalorische Systeme können, wie es heißt, weit größeren Räumen Wärme entziehen als dem kleinen Kühlkammer-Prototyp, der jetzt dazu dient, die Technik zu demonstrieren. Umgekehrt kann sie auch größeren Räumen Wärme zuführen: Der Wärmetransport durch die superelastischen Drähte funktioniert gewissermaßen wie bei einer Wärmepumpe. "Auch beim Heizen erreichen wir Temperaturdifferenzen von rund 20 Grad Celsius", so Seelecke.

Um Wärme zu transportieren, nutzen die Forscher das Formgedächtnis der Nickel-Titan-Drähte. Diese erinnern sich gleichsam an ihre ursprüngliche Form und nehmen diese wieder an, nachdem sie verformt oder gezogen worden sind. Ähnlich wie echte Muskeln können sie kontrahieren und expandieren, sich spannen und entspannen. Der Grund hierfür liegt auf der molekularen Ebene der Legierung Nickel-Titan: Diese kennt zweierlei Kristallgitter, welche die zwei Phasen einer reversiblen Umwandlung repräsentieren. Anders als bei Wasser sind diese Phasen nicht den Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig zugeordnet, sondern beide fest. Bei den Phasenumwandlungen ihrer Kristallstruktur nehmen die Drähte Wärme auf und geben sie anschließend wieder ab: "Das Formgedächtnismaterial gibt Wärme ab, wenn es im superelastischen Zustand gezogen wird, und nimmt Wärme auf, wenn es entlastet wird", erläutert Motzki. Der Effekt werde beim Bündeln mehrerer Drähte verstärkt: Die Bündel nähmen durch ihre größere Oberfläche mehr Wärme auf und gäben auch mehr wieder ab.

Auf den ersten Blick erscheint das Prinzip simpel. Wer allerdings auf dieser Grundlage einen Kühlkreislauf konstruieren will, muss dazu viele praktische Fragen klären. Im Protototypen des Mini-Kühlschranks sorgt ein eigens konstruierter und patentierter Nockenantrieb dafür, dass Bündel aus 200 Mikrometer dünnen Nickel-Titan-Drähten fortwährend um eine runde Kühlkammer herum rotieren: "Während sie im Kreis wandern, werden sie auf der einen Seite belastet, also gezogen, und auf der anderen Seite entlastet", erklärt Doktorand Lukas Ehl, der am Kühlsystem arbeitet. An den rotierenden Bündeln vorbei gelangt Luft in die Kühlkammer. Dort zirkuliert sie dann dauerhaft um entlastete Drähte, wobei diese ihr Wärme entziehen. Beim Weiterdrehen transportieren die Drähte Wärme aus der Kühlkammer heraus und geben sie ab, wenn sie außen wieder unter Zug geraten. "Etwa zehn bis zwölf Grad Celsius können auf diese Weise in der Kühlkammer erreicht werden", sagt Student Nicolas Scherer, der im Rahmen seiner Masterarbeit am Projekt mitarbeitet.

Gegenstand der Forschungen in Saarbrücken ist etwa, wie man erreicht, dass der Antrieb die Drähte permanent in Gang hält. Ebenso geht es darum, wie die Luftströme aussehen, wie die Abläufe sich am effizientesten gestalten lassen, wie viele Drähte man am besten bündelt, wie stark diese idealerweise für eine bestimmte Kühlleistung gezogen werden und vieles mehr. Das Team hat eine Software entwickelt, mit der es die Heiz- und Kühltechnik für verschiedene Anwendungen anpassen kann. Diese erlaubt es auch, Kühlsysteme zu simulieren und zu planen. Die Saarbrücker befassen sich darüber hinaus mit dem kompletten Kreislauf von Materialherstellung und Recycling bis zur Produktion.

Nicolas Scherer und Doktorand Lukas Ehl, die im Team von Seelecke und Motzki forschen, präsentieren den Prototyp des weltweit ersten Kühlschranks mit künstlichen Muskeln.

(Bild: Oliver Dietze)

Es liegt auf der Hand, dass es im Ergebnis nicht bei Kühlschränken bleiben soll. Motzki sieht ein lohnendes Ziel darin, verschiedene Anwendungsgebiete zu erschließen, etwa die Industriekühlung oder die Kühlung in Elektrofahrzeugen. Der jetzige Stand ist Motzki zufolge das Ergebnis aus mehr als einem Jahrzehnt Forschung in mehreren mit Millionenbeträgen geförderten Forschungsprojekten und in mehrfach ausgezeichneten Doktorarbeiten. Die EU und die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG gehörten zu den Förderern der Arbeit. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) habe mehr als 17 Millionen Euro im Rahmen des Projekts "DEPART!Saar" investiert, bei dem die Forscher mit Wissenschaftseinrichtungen und Industriepartnern zusammenarbeiteten.

Wärme- und Kälteerzeugung sind allerdings nicht das einzige Ergebnis der Saarbrücker Forschungsarbeit rund um die künstlichen Muskeln. Vielmehr nutzen die Beteiligten die Formgedächtnis-Technologie für sehr unterschiedliche Anwendungen von Robotergreifern bis zu Ventilen und Pumpen. Um solchen und ähnlichen Verfahren den Weg in die industrielle Praxis zu ebnen, haben die Wissenschaftler aus dem Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme heraus das Unternehmen mateligent GmbH gegründet. Auf der Hannover Messe wollen die Saarbrücker vom 22. bis 26. April 2024 an Stand B10 in Halle 4 nicht nur ihren elastokalorischen Mini-Kühlschrank, sondern auch andere Aspekte ihrer Formgedächtnis-Technik zeigen: etwa smarte Kleinantriebe, energieeffiziente Robotergreifer und weiche Roboterarme in Form von Elefantenrüsseln.

(psz)