Lichtzeichnen: Von der Asphalt-Platte zum CCD

Seite 3: Bildliche Geschichte

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Der Trend zur Individualisierung in unserer Zeit spiegelt sich ganz exakt in der fotografischen Geschmacksrichtung wider. Maler Hans Memling, dem das erste weltliche Porträt zugeschrieben wird, lieferte häufig umfassende Kontextinformationen zu Stand, Bildung, Familienzugehörigkeit und Nationalität der abgebildeten Person.

Frühe Porträtfotografien liefern zwar nicht annähernd so umfangreiche Hinweise zur gesellschaftlichen Einordnung, spiegeln aber den Geschmack des Zeitgeistes wider. Wenn auch das Mobiliar beim Fotografen nicht das eigene war, so war es zum Zeitpunkt der Aufnahme doch das Umfeld, was man sich für sein Leben ersehnte – idealisierter Zeitgeist sozusagen. Zum Fotografen der Gründerjahre ging man auch nicht in Alltagsbekleidung, sondern legte mit aller Sorgfalt den notfalls geliehenen Sonntagsstaat an.

Menschen auf Fotografien des 19. Jahrhunderts stehen oder sitzen, schauen in die Kamera und sind oft vollständig von Kopf bis Fuß abgelichtet. Klassenfotos der Jahrhundertwende hatten noch ein starkes Bedürfnis nach Vollständigkeit. Alle 40 Kinder plus Lehrer plus Klassenschild kamen mit aufs Wimmelbild. Oder auch die berittenen Soldaten, die mit Pferd, Knecht und Stall ein besonderes historisches Zeitbild liefern.

Es ist eher seriell als individuell, aber immerhin mit einer sehr raffinierten Bildaufteilung komponiert: Der goldene Schnitt findet sich hier gleich mehrfach wieder. Mit der politischen Haltung änderte sich auch die Idee der Selbstpräsentation. Wer nichts tut, gilt nichts und so gibt es heute kaum noch ein aktuelles Bild, auf dem einfach jemand steht, meistens wird geraucht, gelesen, in die Haare gefasst oder telefoniert. Man liefert die Identifikation über eine Handlung, nicht über eine Kulisse oder sich selbst. Und das Gesicht gewinnt an Bedeutung, denn es bildet den Motivschwerpunkt, während Kostüme oder Umgebung zur Nebensächlichkeit werden.

Natürlich stammt das Wort Fotografie aus dem Griechischen und wird aus zwei Wörtern zusammengesetzt, die man mit "Lichtzeichnung" übersetzen könnte. Die Umgangsweise und die Betrachtung der Fotografie spiegeln nicht nur optische Gegebenheiten wider, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen. Es entstand die ethnologisch forschende Form der Fotografie, es entwickelten sich Genres wie Presse- und Polizeifotografie, Mode-, Stillleben-, Landschafts- und Food-Fotografie. Fotografie kann gesellschaftskritisch sein oder zu neuen wissenschaftlichen Ufern vorstoßen.