Marathonsitzung des US Supreme Court zu "Zensur"-Gesetzen

Texas will Sozialen Netzen verbieten, Postings zu löschen, zu kennzeichnen, oder nicht zu belohnen. Auch Florida hat Verbote erlassen. SCOTUS ist skeptisch.

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Twitter-Logo, davor ein Scherenschnitt Donald Trumps mit ausgestreckter Hand und Zeigefinger

(Bild: Twin Design/Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Fast vier Stunden lang wurde am Montag vor dem US Supreme Court (SCOTUS) über je ein Gesetz der US-Staaten Florida und Texas verhandelt. Sie wollen vehement in die Entscheidungsfreiheit von Online-Plattformen eingreifen, welche Inhalte sie hosten wollen oder welche Inhalte sie finanziell belohnen möchten. Das hätte weitreichende Auswirkungen auf das World Wide Web, auch über die Grenzen der beiden US-Staaten hinaus.

Die Branchenverbände Netchoice und CCIA (Computer and Communications Industry Association) bekämpfen die Gesetze mit dem Argument, sie verletzten das Rechte auf Freie Rede, wie es im ersten Zusatzartikel der US-Verfassung verbrieft ist. Es umfasst auch das Recht, nicht dazu gezwungen zu werden, etwas zu sagen, was man nicht sagen möchte. Das Gesetz Floridas wurde bereits von einem US-Bundesbezirksgericht für vorläufig nicht anwendbar erklärt, für das texanische Gesetz musste das der Supreme Court selbst tun.

Ob respektive inwieweit die Gesetze gegen die US-Verfassung verstoßen, soll nun der Supreme Court klären. Die Branchenverbände fordern die vollumfängliche Aufhebung, die Regierungen Floridas und Texas Staaten verteidigen ihre Gesetze. Die US-Bundesregierung argumentiert für eine Zwischenlösung: Das Verbot jeglicher Moderation sei unzulässig, Vorschriften über Transparenz für Nutzungsbedingungen und Moderationsstatistiken sowie Einspruchsmöglichkeiten für betroffene Nutzer hingegen zulässig.

Die Richter des Supreme Court bezweifelten in der Anhörung mehrheitlich, dass die Staaten Online-Plattformen dazu zwingen können, bestimmte Inhalte oder Personen zu hosten – gleichzeitig sahen sie die Marktmacht einzelner Anbieter kritisch. Vorsitzender John Roberts unterstrich die Kernfrage: Wer dürfte entscheiden, welche Stimmen auf einer Plattform zu hören seien – die Regierung oder die privaten Plattformbetreiber? Der erste Zusatzartikel der US-Verfassung wiege schwer zugunsten der privaten Unternehmen, führte Roberts aus. Die Bestimmung verbiete der Regierung, nicht aber Privaten, Zensur auszuüben.

Richter Samuel Alito wollte wissen, ob "Moderation von Inhalten" nicht bloß ein Euphemismus für Zensur sei. Netchoice-Anwalt Paul Clement war um eine Antwort nicht verlegen: "Wenn die Regierung es macht, könnte es ein Euphemismus für Zensur sein. Wenn ein Privater es macht, ist Moderation von Inhalten ein Euphemismus für redaktionellen Ermessensspielraum."

Alito und seine Richterkollegin Sotomayor ließen durchblicken, dass sie erwägen, die Fälle an untergeordnete Gerichte zurückzuschicken, weil die vorliegenden Gerichtsakten zu viele Fragen zum Sachverhalt offen lassen. Tatsächlich ist es in Normenkontrollverfahren nicht Aufgabe des US Supreme Court, den Sachverhalt zu erheben. Dazu sind untergeordnete Gerichte berufen. Der Supreme Court entscheidet auf Basis der dort festgestellten Fakten lediglich bestimmte Rechtsfragen.

Wiederholt kamen Tide Pods zur Sprache. Immer wieder gibt es Wellen gefährlicher Streiche oder sogenannter Challenges, bei denen User zu gefährlichem Verhalten animiert werden, sei es blind Autofahren, ein Buch als Schutz gegen ein Schusswaffenprojektil zu verwenden oder Waschmittel zu verspeisen – die berühmte Tide Pod Challenge. Youtube hat solche Videos vor fünf Jahren verboten, dürfte solche Beiträge nach dem neuen texanischen Gesetz aber nicht mehr löschen und auch nicht deren Verbreitung reduzieren.

Selbst Antisemitismus oder die Verherrlichung von Terrorismus dürften große Soziale Netzwerke in Texas nicht mehr löschen, nicht mehr mit Hinweisen versehen und auch nicht von finanziellen Ausschüttungen für besonders häufig gesehene Postings ausnehmen. Dazu schlug der Vertreter Texas' vor, die Plattformbetreiber könnten sich ja beispielsweise jede Erwähnung von Al Kaida verbitten. Dann wären sowohl Stimmen für als auch gegen die Terrororganisation betroffen und dem Gesetz Genüge getan.

Genau deswegen würde das Gesetz dazu führen, dass viele Themengebiete in Sozialen Netzwerken überhaupt gesperrt würden, argumentiert Netchoice. Damit wären die Angebote aber sowohl für User als auch für Werbekunden weniger attraktiv. Auch der Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union kam zur Sprache. Ein Richter wollte wissen, warum sich die Branchenverbände auch gegen Transparenzbestimmungen wehren, wo sie doch in der EU ähnliche Auflagen befolgen. Dazu sagte Netchoice, dass die Auflagen Texas hundert Mal mehr Aufwand mit sich brächten als die EU-Bestimmungen.

Im Anschluss feierte Netchoice die ungewöhnlich lange Anhörung als Erfolg. Die Vertreter der beiden US-Staaten hätten es nicht geschafft, ihre Gesetz als verfassungskonform zu verteidigen. Eine Entscheidung des Supreme Court wird für Juni erwartet – sie könnte sich allerdings in der Anordnung beschränken, dass die untergeordnete Gerichte weitere Fakten zu erheben haben.

Die beiden Gesetze sind recht unterschiedlich und umfassen jeweils eine Sammeltüte an Vorschriften. Floridas Gesetz (bekannt als SB 7072) reguliert deutlich mehr als nur klassische Soziale Netzwerke. Die Definition "social media platform" umfasst alle in Florida verfügbaren "information services, systems, Internet search engines, or access software providers", die mehr als 100 Millionen US-Dollar jährlich umsetzen oder mindestens 100 Millionen monatliche Nutzer weltweit haben. Das betrifft also auch die in der Anhörung erwähnten Unternehmen Uber, Etsy und Amazon Web Services (AWS).

Ihnen wird untersagt, politische Amtsträger, politische Kandidaten sowie Medienunternehmen länger als 14 Tage auszuschließen, selbst wenn sie gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen haben. Das ist eine Reaktion der in Florida regierenden Republikaner auf den Ausschluss Donald Trumps durch Twitter, Spotify, Meta Platforms und andere nach Trumps Umsturzversuch Anfang 2021.

Der Schutz für Medienunternehmen gilt allerdings nicht für Journalisten, sondern nur für große Medienunternehmen – und auch dort nicht für Unternehmen, die Themenparks betreiben. Das ist ein bewusster Tritt gegen Disney, weil dieser Medienkonzern gewagt hat, Floridas Gouverneur zu kritisieren, weil er die Erwähnung von Homosexualität im Schulunterricht hat verbieten lassen.

Hinzu kommen Einschränkungen, wie die erfassten Online-Anbieter alle User zu behandeln haben. Nutzungsbedingungen müssen einheitlich angewandt werden, Änderungen wären höchstens einmal alle 30 Tage erlaubt. Eingriffe wie das Sperren von Postings, das Beistellen von Hinweisen, die reduzierte Verbreitung von Postings, oder die Sperre von Kommentaren sind nur noch nach expliziten Hinweisen in Einzelfall an den jeweiligen Nutzer zulässig. Zudem erhalten User Anspruch auf Befreiung von jeglichen Algorithmen, Überprüfung von Sperrentscheidungen sowie Einblick in die Zugriffszahlen für jedes einzelne eigene oder fremde Posting.

Ist ein Posting von einem großen Medienunternehmen (außer Themenparkbetreiber), politischen Amtsträger oder Kandidaten, oder behandelt ein Beitrag einen Amtsträger oder Kandidaten, sind reduzierte Verbreitung (shadow banning) sowie Hervorhebung (prioritization) überhaupt unzulässig – es sei denn, jemand bezahlt für die Hervorhebung. Verstoßen Online-Anbieter gegen das Gesetz, drohen ihnen hohe Strafen, Schadenersatzansprüche sowie der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen.

Texas' Gesetz (bekannt als HB 20) versucht zwar, sich im Kern nur auf klassische Soziale Netze zu beziehen, geht dann aber deutlich weiter. Als Zensur wird bereits jede Benachteiligung jeder Äußerung eines Nutzers definiert: "'Censor' means to block, ban, remove, deplatform, demonetize, de-boost, restrict, deny equal access or visibility to, or otherwise discriminate against expression."

All das wird untersagt auf Basis des Inhalts oder auf Basis des Aufenthalts in Texas oder einem bestimmten Teil des Staates. Auch User, die sich außerhalb der Plattform in verpönter Weise äußern, dürfen auf der Plattform nicht benachteiligt werden. Soziale Netzwerke müssen also auch Personen hosten, die beispielsweise öffentlich zum Umsturz des demokratischen Systems aufrufen oder Rassendiskriminierung gutheißen. Vertragliche Verzichtserklärung für solchen "Schutz" sind unwirksam.

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Ausnahmen gibt es wenige; beispielsweise darf ein Betreiber erst dann zum Schutz von Kindern eingreifen, wenn er von einschlägigen Einrichtungen dazu aufgefordert wurde, aber nicht aus eigenem Erstreben. Selbst die Androhung von Gewalt darf nur in bestimmten Fällen gesperrt werden.

Ähnlich wie in Florida drohen Strafen und Klagen von Nutzern. Im Unterschied zu Florida würde das texanische Gesetz allerdings über die Staatsgrenzen hinaus wirken; denn klageberechtigt sind nicht nur Einwohner und Besucher des konservativen Staates, sondern auch Unternehmen aus anderen Staaten, die in Texas geschäftlich tätig sind. Betreiber Sozialer Netzwerke fürchten zudem, dass sie sich nicht einfach aus Texas zurückziehen können, denn schon das könnte womöglich als illegale Zensur geahndet werden.

Die Verfahren vor dem US Superem Court heißen Moody v Netchoice (Az. 22-277 bezüglich Florida) respektive Netchoice v Paxton (Az. 22-555 bezüglich Texas).

(ds)