26C3: Hitzige Qualitätsdebatte zur Wikipedia
Auf dem Chaos Communication Congress trafen Verfechter einer strengen Qualitätskontrolle durch "Relevanzkriterien" und Befürworter einer möglichst breiten Verfügbarkeit "freien Wissens" bei der Web-Enzyklopädie aufeinander.
Auf dem 26. Chaos Communication Congress (26C3) in Berlin trafen am heutigen Mittwoch Verfechter einer strengen Qualitätskontrolle durch "Relevanzkriterien" und Befürworter einer möglichst breiten Verfügbarkeit "freien Wissens" in der Wikipedia aufeinander. Andreas Bogk vom Chaos Computer Club (CCC) hatte der knapp zweistündigen Diskussion unter dem Motto "Wegen Irrelevanz gelöscht" die Vorgabe gegeben, nach den vielen bereits geführten Debatten über mehr oder weniger willkürliche Löschungen in der Online-Enzyklopädie "kein weiteres Bashing" zu betreiben. Vielmehr sollten angesichts eines Mediums, "das von vielen als wesentlich wahrgenommen wird", die "eigentlichen Probleme" und Lösungen für die Abwanderung vielerverschreckter Autoren herausgearbeitet werden.
Im zahlreich versammelten Publikum, in dem nach eigenen Bekunden etwa fünf Wikipedia-Administratoren und rund 30 regelmäßige Autoren saßen, hatte sich viel Unmut vor allem über "willkürliche" Löschungen angestaut. Auch trotz der Vorlage von Nachweisen und Quellen würden mit viel Mühe in mehreren Stunden erstellte Beiträge mit einem der berüchtigten Löschanträge der digitalen Verdammnis anheim gegeben, beklagten sich viele Hacker. Ein "Zirkel" von Administratoren wolle zwar einerseits auf die Arbeit der Community zurückgreifen, andererseits aber seine eigenen Kriterien und Sichtweisen durchsetzen. Gewünscht sei ein "demokratisches Medium", keine unsichtbare Zensur. Mehrfach wurde die Forderung nach Einführung eines Bewertungsmechanismus' durch die Nutzer laut.
Der Informatikstudent Tim Weber stellte im Sinne der Kritiker ein Ergänzungsprojekt zur Wikipedia mit dem Titel Levitation vor. Darunter versteht er einen technischen und visionären Ansatz, um die Wissenssammlung "grundlegend zu reformieren". So solle jeder Nutzer letztlich seine eigene Ausgabe haben können. Es müsse zwar eine gemeinsame Wissensbasis geben. Wer aber einen neuen Artikel anlege, sehe diesen zunächst nur in "seinem" Wiki. Eingangskontrolleure sollten diese Beiträge bei Interesse dann in ihre Editionen aufnehmen, "sodass sich richtiger und qualitativ hochwertiger Content durchsetzen" werde. Jeder Nutzer könne so seine Ansichten darstellen. Wenn aber eine Firma etwa reine Werbung einstelle, werde sich ein solcher Eintrag nicht verbreiten.
Auch der Bamberger Literaturwissenschaftler Martin Haase plädierte für eine stärkere Beachtung des Ideals der freien Verbreitung von Wissen in der Wikipedia. Laut dem CCC-Mitglied könne etwa nach zwei Jahren nicht einfach einen Artikel über den mit Club-Mate gebrauten Hacker-Cocktail "Tschunk" weggenommen werden, da dieser bereits vielfach verlinkt und dann plötzlich nicht mehr verfügbar sei. Da reiche es nicht aus darauf zu verweisen, dass das Mixgetränk nicht im "internationalen
Cocktail-Führer" stehe. Haase verwies daher auf seine bereits publizierten Verbesserungsvorschläge, wonach Auswahlkriterien weltweit abgestimmt werden sollten, der "Administratorstatus" neu zu definieren sei und Beiträge, die aus "Relevanzkriterien" gelöscht worden seien, "irgendwie sichtbar" gemacht werden sollten.
Der seit den Gründungstagen der deutschen Wikipedia bei der Enzyklopädie aktive Kurt Jansson räumte ein, dass "Relevanz" nicht der richtige Aufhänger für die Auseinandersetzung sein dürfe. Bei einer "postmodernen" Wissenssammlung könne man schwer festlegen, was bedeutsam sei für einzelne Nutzer. Selektionskriterien seien aber nötig. Sie sollten sich daran bemessen, "ob wir in einem bestimmten Bereich genügend Autoren haben, die diesen auf einem gewissen Qualitätsstandard halten können". Schließlich werde die Wikipedia mittlerweile in Gerichtsurteilen zitiert: "Wir haben eine sehr, sehr hohe Verantwortung für die Realität da draußen, die wir mitgestalten." Generell sei die Enzyklopädie ein "konservatives Projekt" in der Hinsicht, dass man einen "wissenschaftlichen Anspruch" habe und immer Belege aus Sekundärliteratur suche.
Es sei zwar richtig, meinte Jansson, dass "jeder Vollidiot" einen Löschantrag stellen könne. Dies bedeute aber noch lange nicht, dass dieser durchkomme. Dass es trollige Löschfreaks wie den Nutzer "Weißbier" gebe, sei bekannt, und entsprechend zurückhaltend werde auf deren Eingaben reagiert. Eine "große Verschwörung" von Admins gebe es nicht, diese würden gewählt, auch wenn eine spätere Abstimmung über Löschungen nicht demokratischen Regeln folge. Die Einführung von Bewertungen lehnte Jansson ab, da diese "nicht hilfreich für den Leser" seien. So würde etwa ein Pokemon-Text immer fünf Sterne erhalten.
Der langjährige Wikipedia-Mitstreiter Mathias Schindler bemühte sich anfangs um eine Mittelposition, näherte sich aber immer weiter an Jansson an. Er fürchtete, dass angesichts der derzeit angelegten Relevanzmaßstäbe wohl selbst ein früher Artikel über den jetzigen US-Präsidenten Barack Obama aus Zeiten vor seines Aufstiegs gelöscht worden wäre. Die Auswahlmechanismen seien "überarbeitungswürdig", aber derzeit "das Beste, was wir haben". Wer es glaube, besser machen zu können, solle dies entweder in der Wikipedia tun oder sein "eigenes Ding aufmachen". Ein Vorstoß wie Levitation bilde aber letztlich nur das gesamte Internet mit seinen ungezählten Publikationsmöglichkeiten ab, sodass eine "Omnipedia" dabei herauskäme. Es gebe intern auch Ansätze, die Wikipedia beispielsweise maschinenlesbar zu machen und damit semantische Anwendungen wie das Ausrechnen des Alters von Politikern zu erlauben. Auch damit ergäbe sich aber mittelfristig eine reine "Frage-Antwort-Maschine".
(hob)