SPD-Chef Beck sagt bedingt "Ja" zu Online-Durchsuchungen
Während sich die große Koalition weiter an eine Einigung bei Online-Razzien herantastet, haben sich Grüne und die Free Software Foundation Europe (FSFE) entschieden gegen den "großen Netz-Angriff" ausgesprochen.
Die Regierungsfraktionen tasten sich an eine Einigung im Dauerstreit um heimliche Online-Durchsuchungen heran. "Die SPD wird 'Ja' dazu sagen, wenn die Union sich dazu bequemt, die rechtsstaatlichen Voraussetzungen, wie sie für jede Hausdurchsuchung und jede Telefon-Abhör-Aktion vorgeschrieben sind, auch zu akzeptieren", umschrieb SPD-Chef Kurt Beck im Nachrichtensender n-tv die Bedingungen der Sozialdemokraten für eine verfassungskonforme Lösung. Auch die Notwendigkeit und Praktikabilität der Maßnahme habe die Union aber nach wie vor nicht ausreichend dargelegt. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident hatte zuvor Gesprächsbereitschaft bei den von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) geplanten Netzbespitzelungen signalisiert.
Angesichts solcher Vorbehalte versuchte Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) erneut, die Bedenken der Sozialdemokraten zu zerstreuen. Bei den Online-Durchsuchungen gehe es nicht um einen Regelfall, knüpfte er an die Einschätzung des Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, an. Der parlamentarische Geschäftsführer der Union, Norbert Röttgen (CDU), drängte gleichfalls auf die baldige Einführung verdeckter Online-Durchsuchungen. Es müssten alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um konkrete Gefahren des Terrorismus präventiv zu verhindern. Zwar dürfe die Polizei schon den E-Mail-Verkehr, die aufgerufenen Internet-Seiten und die Chat-Rooms von Verdächtigen überwachen. Dennoch gebe es Lücken bei den Kontrollmöglichkeiten, die dringend geschlossen werden müssten.
Laut SPD-Generalsekretär Hubertus Heil haben die jüngsten Fahndungserfolge dagegen gezeigt, dass Ex-Bundesinnenminister und Parteifreund Otto Schily die deutsche Sicherheitsarchitektur den viel beschworenen neuen Herausforderungen angepasst habe. Mit Blick auf die Dauervorwürfe der Union fügte er hinzu: "Die SPD hat von Menschen, die sich wenig auskennen, keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Sicherheit nötig." Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) äußerte sich ähnlich wie Beck und zeigte sich verwundert über die laute Kritik am geplanten Einsatz des "Bundestrojaners". Auch jetzt würden sich Ermittler ja nicht immer gleich als Polizisten vorstellen, verteidigte der Senator im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses die Heimlichkeit der Maßnahme. Entscheidend sei, dass jede Art der Überwachung vom Grundgesetz gedeckt sei. "Wie ich dann in einen Computer komme, wenn das verfassungsrechtlich zulässig ist, das ist mir eigentlich egal", wischte Körting Bedenken über die Realisierbarkeit der Ausforschung "informationstechnischer Systeme" weg.
Die Grünen warnten unterdessen vor einer "Hysterisierung der Sicherheitsdebatte" und daraus folgenden Schnellschüssen. Grünen-Chef Reinhard Bütikofer sagte nach Beratungen der Spitzengremien seiner Partei, man wolle keine Vorschläge akzeptieren, deren "praktischer Nutzen" kaum oder gar nicht dargelegt wird. Vor allem der mit Online-Razzien einhergehende "große Netzangriff" sei "unnötig, freiheitsfeindlich und autoritär". Ein strafrechtliches Vorgehen gegen Personen, die sich in sogenannten Terrorcamps ausbilden lassen, lehne die Partei dagegen nicht kategorisch ab. Ob ein solches Vorgehen einen großen Sicherheitsgewinn mit sich bringe, sei jedoch zweifelhaft.
Position gegen Netzbespitzelungen hat ferner die Free Software Foundation Europe (FSFE) bezogen. Schäuble wolle "80 Millionen Bundesbürger unter Generalverdacht stellen, weil er meint, jährlich etwa zehn sogenannte Online-Durchsuchungen durchführen zu müssen", moniert der Deutschland-Koordinator der Vereinigung, Bernhard Reiter. Nicht nur, dass dabei Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis zueinander stünden. Viel schlimmer sei, dass "ein Angriff auf unsere Kultur und unser Rechtssystem" unternommen würde. "Gerade wir Deutsche sollten aus unseren schlechten Erfahrungen mit derlei Spitzeldiensten gelernt haben", betont Reiter. Ferner werde die Exportwirtschaft aufgrund von Angst internationaler Kunden vor Spionageelementen in deutscher Software Schaden nehmen. Zudem weist die FSFE darauf hin, dass "Regierungen wechseln, die Daten hingegen bleiben erhalten".
Technische Hintergründe für die Sorgen hat FSFE-Sicherheitsexperte Werner Koch parat. Er geht davon aus, dass es angesichts der unterschiedlichen genutzten Betriebssysteme einen "Werkzeugkasten für staatlichen Einbruch" geben wird. Sichere Computersysteme würden da zum Hindernis. Konkret betroffen sieht die FSFE freie Software, da diese aufgrund ihrer leichten Anpassbarkeit und kollektiven Fertigung besonders sicher gemacht werden könne. Sollte sich dieser Aspekt bis zum Innenminister herumgesprochen haben, hält die FSFE ein Herstellungs- und Benutzungsverbot quelloffener Programme für möglich. Weiter fürchtet die FSFE, dass Entwickler aus ihrem Umfeld durch den sogenannten Hackerparagraphen abgeschreckt werden. So würde freie Software regelmäßig international geschrieben, und viele dabei verwendeten oder produzierten Werkzeuge könnten daher als "Hacker-Tools" diskreditiert werden, auch wenn damit die Sicherheitsstufen von Rechnern analysiert würden. Die FSFE unterstützt wegen ihrer Bedenken die Demonstration "Freiheit statt Angst", zu der zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen am 22. September in Berlin aufrufen.
Zum aktuellen Stand und der Entwicklung der Debatte um die erweiterte Anti-Terror-Gesetzgebung, die Anti-Terror-Datei sowie die Online-Durchsuchung siehe:
(Stefan Krempl) / (pmz)