Erdbeben in Japan: Ein langer Kampf gegen die nukleare Katastrophe [2. Update]

Mehr als zwei Wochen nach dem Erdbeben in Japan steigt die Zahl der Toten und Vermissten weiter. Die Lage im außer Kontrolle geratenen AKW Fukushima Daiichi bleibt sehr kritisch, die gemessene Radioaktivität im Meer und im Erdboden nimmt weiter zu.

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Von
  • JĂĽrgen Kuri

Mehr als zwei Wochen ist es her, dass Japan von einem verheerenden Erdbeben der Stärke 9 und einem anschließenden Tsunami getroffen wurde, die auch die nuklearen Notfälle im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi auslösten. Die durch Beben und Flutwelle verursachten Opferzahlen steigen immer noch weiter: Nach dem letzten Stand der offiziellen Angaben wurden 11.232 Menschen getötet. Mindestens 16.361 Vermisste gibt es derzeit noch, die Zahlen können sich aber in den nächsten Tagen noch ändern, bislang rechnen die japanischen Polizeibehörden mit mindestens 28.000 Toten und Vermissten. Vor allem in einigen verwüsteten Gemeinden in den Küstenregionen gibt es es noch keine gesicherten Angaben über die Zahl der Toten und Vermissten, was die Opferzahlen weiter nach oben treiben kann.

Die Reaktoren 1 bis 4 im außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, bei dem die Kühlsysteme ausgefallen, Reaktorgebäude beschädigt und Reaktorkerne teilweise geschmolzen sind, hat die Betreibergesellschaft Tokyo Electric Power immer noch nicht im Griff; sie behauptet allerdings, die Lage stabilisiere sich langsam. Auch die US-Regierung erwartet eine langsame Stabilisierung der Lage. Dem wollen aber nicht alle Experten zustimmen: Nach Ansicht von Richard Lahey, ehemaliger Chef der Forschungsabteilung für die Sicherheit von Siedewasserreaktoren bei General Electric, haben die Techniker in Fukushima das Rennen um die Rettung der Reaktoren verloren. Zumindest im Reaktor 2 habe sich, wenn man die Messwerte und die gefundenen Materialien analysiere, ein Teil des Kerns durch den Reaktordruckbehälter geschmolzen, erklärte Lahey gegenüber der britischen Tageszeitung Guardian.

Am Dienstagabend japanischer Zeit war in Meerwasserproben, die in der Nähe des AKW Fukushima Daiichi entnommen worden waren, ein Konzentration des radioaktiven Isotops Jod-131 gefunden worden, die das 3.355-fache des erlaubten Grenzwerts betrug, erklärte die japanische Nuklearaufsichtsbehörde NISA. Diese bislang höchste gemessene Konzentration an radioaktivem Material im Meerwasser spreche dafür, dass radioaktives Material aus teilweise geschmolzenen Reaktorkernen kontinuierlich in den Pazifik entwichen sei. Die genaue Ursache sei zwar unklar, aber die Daten legten nahe, dass Radioaktivität, die aus den Reaktoren austrete, "irgendwie" ins Meer gelangt sei, hieß es etwas ratlos von der NISA.

Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power hatte noch am Dienstag erklärt, es sei kein radioaktiv verseuchtes Wasser aus Auffangbecken bei den Reaktoren ins Meer geflossen. Am Montag waren im Wasser, das in Turbinengebäude von Reaktor 2 stand und wohl auch in die Auffangbecken abfloss, Radioaktivitätswerte von 1000 MilliSievert und mehr pro Stunde gemessen worden. Die UN-Atomagentur IAEA hält eine radioaktive Dosis durch die natürliche Umweltstrahlung von 0,2 bis 0,3 MikroSievert pro Stunde (2,4 MilliSievert pro Jahr) für normal, in Deutschland liegt die natürliche Umweltstrahlung bei bis zu 0,2 MikroSievert pro Stunde (1,7 MilliSievert pro Jahr).

Seit Montag wird das radioaktiv verseuchte Wasser, das aller Wahrscheinlichkeit nach durch die externe Zufuhr von Kühlwasser verursacht wurde, aus den Reaktoren in Tanks gepumpt. Das Abpumpen des Wassers ist allerdings Voraussetzung für die Arbeiten an der Inbetriebnahme der Stromversorgung und der normalen Kühlsysteme der Reaktoren; teilweise musste das Abpumpen aber unterbrochen werden, da nicht genug Tanks zur Aufnahme des radioaktiv verseuchten Wasser zur Verfügung standen. Am Montag war in Bodenproben an einzelnen Stellen im AKW auch Plutonium entdeckt worden, wobei die gefundene Isotopen-Zusammensetzung dafür sprach, dass das Material von Brennstäben aus den Reaktoren oder den Abklingbecken stammt.

Die aktuelle Übersicht des japanischen Atomforums zur Situation in den Reaktoren 1 bis 6 in Fukushima Daiichi am 30. März 10:00 japanischer Zeit (2:00 mitteleuropäischer Zeit) ergibt bislang keine Entspannung der Situation in dem Kraftwerk: Die Brennelemente in den Reaktoren 1 bis 3 sind beschädigt, die Reaktorkerne sind ganz oder teilweise freigelegt, Kernschmelzen werden befürchtet. Die Kühlsysteme sind ausgefallen, es wird extern Wasser zur Kühlung zugeführt. Die Gebäude und teilweise auch die Reaktor-Containments sind größtenteils schwer beschädigt. Die Abklingbecken für abgebrannte Brennstäbe bei den Reaktoren 3 und 4 sind nicht ausreichend mit Kühlwasser versorgt, die Brennstäbe in den Becken teilweise beschädigt. Die Stromversorung zu den Reaktoren ist zwar wieder intakt, aber die Kontrollräume und die Sensoren arbeiten noch nicht wieder ausreichend, die normalen Kühlsysteme sind noch nicht wieder in Betrieb. Ob sie jemals wieder funktionieren, ist derzeit unklar, auch welche Reperaturarbeiten notwendig sind – bevor diese Arbeiten weitergeführt werden können, muss erst das von außen zugeleitete und mittlerweile radioaktiv verseuchte Kühlwasser, das sich auf dem Boden der Reaktorgebäude angesammelt hat, abgepumpt werden. Gleichzeitig muss aber neues Wasser zugeführt werden, um die Reaktoren zu kühlen.

Laut dem japanischen Regierungssprecher Yukio Edano diskutiert die Regierung mit Experten jede Möglichkeit, um das AKW unter Kontrolle zu bringen. Auch neue Möglichkeiten, um die weitere Verbreitung radioaktiver Substanzen aus dem Kraftwerk zu verhindern, würden in Betracht gezogen; dazu gehöre etwa auch das Abdecken der Reaktoren mit Spezialgewebe oder das Abpumpen des radioaktiven Kühlwassers in einen Tanker auf See. Für die Beschäftigten von Tokyo Electric Power und vom Kraftwerksbetreiber angeheuerten Subunternehmern ist die Lage vor Ort äußerst kritisch – insgesamt 300 Menschen, darunter 50 von Subunternehmen, arbeiten derzeit im AKW Fukushima Daiichi. Kritik an den Bedingungen und mangelnden Sicherheitsvorkehrungen, mit denen sich die Beschäftigten konfrontiert sehen, wird angesichts der Situation in dem Kraftwerk immer lauter.

[1. Update (31.3., 9:30) Nach den jüngsten Messungen der UN-Atomaufsichtsagentur IAEA ist auch die radioaktive Belastung außerhalb der 20-km-Evakuierungszone um das AKW Fukushima Daiichi gestiegen. Die im Boden gefundene Konzentration der radioaktiven Isotope Jod-131 und Cäsium-137 radioaktivem Jod machten eine genaue weitere Prüfung notwendig, in dem Dorf Iitate (rund 40 km von Fukushima Daiichi entfernt) lägen die Werte über den IAEA-Grenzwerten, bei denen eine Evakuierung notwendig sei. Damit bestätigte die IAEA auch Messungen der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die bei Messungen in dem Gebiet zu ähnlichen Ergebnissen gekommen war.

Die IAEA betonte, man habe die japanischen Behörden auf die Ergebnisse hingewiesen, diese hätten zugesagt, sie genau zu prüfen und angemessen zu reagieren. Der japanische Regierungssprecher Yukio Edano erklärte, es gebe derzeit noch keine Pläne zu Evakuierungen außerhalb der 20-km-Zone. Man müsse aber die Überwachung der gemessenen Werte verstärken; auch werde man die notwendigen Maßnahmen ergreifen, wenn eine Evakuierung wirklich notwendig wäre.

Edano meinte ebenfalls, es sei nicht auszuschließen, dass sich die Situation im außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi weiter verschlechtere. Sowohl die japanische Regierung als auch Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power hatten erneut erklärt, es werde noch dauern, bis man die nuklearen Notfälle im Kraftwerk unter Kontrolle gebracht habe. Am Mittwoch hatte Tokyo Electric Power versucht, durch Sprühen von Kunstharz die aus den Reaktoren austretende radioaktive Strahlung zu verringern – aufgrund einsetzenden Regens musste die Operation aber beendet werden. Mittlerweile hat der Kraftwerksbetreiber offiziell erklärt, die Reaktoren 1 bis 4 des Kraftwerks würden auf jeden Fall verschrottet. Edano empfahl Tokyo Electric Power, alle 6 Reaktoren des Kraftwerks stillzulegen – in den Reaktoren 1 bis 3 sind offensichtlich die Brennstäbe beschädigt und ist es zumindest zu teilweisen Kernschmelzen gekommen, im Reaktor 4, der zum Zeitpunkt des Bebens außer Betrieb war, sind die Brennstäbe im Abklingbecken nicht mehr gekühlt und wohl ebenfalls beschädgit beziehungsweise teilweise geschmolzen. Die Reaktoren 5 und 6 befinden sich laut Kraftwerksbetreiber in einem stabilen, heruntergefahrenen Zustand.

Derweil ist auch die gemessene Radioaktivität im Meerwasser weiter gestiegen, sie soll nun 4.285 mal höher sein als die erlaubten Grenzwerte. Laut den Messungen von Tokyo Electric Power ergaben die Messungen für Jod-131 einen Wert von 180 Becquerel pro Kubikzentimeter. Auch die Werte für Cäsium 137 seien stark erhöht.

Die Zahl der Toten nach dem Erdbeben und der anschlieĂźenden Flutwelle stieg mittlerweile auf 11.417, die Zahl der Vermissten beziffert die japanische Polizei derzeit mit 16.273.]

[2. Update (1.4., 16:30): Mittlerweile haben sich zeitweise zurückgezogene Angaben über radioaktive Verseuchung des Grundwassers unterhalb des Turbinenraums von Reaktor 1 im AKW Fukuschima Daiichi bestätigt. Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power erklärte, die Konzentration von radioaktiven Jod-Isotopen im Grundwasser sei 10.000 Mal höher als die erlaubten Grenzwerte. Die Firma hatte diese Angaben zuvor schon gemacht, sie dann aber erst einmal wieder zurückgezogen, da angeblich ein Auswerteprogramm für Messwerte falsch arbeite. Dies habe sich nicht bestätigt. Allerdings gebe es zweifelhafte Daten über verschiedene andere Elemente, die durch einen Programmierfehler bei einem Messgerät verursacht worden seien. Dabei handelt es sich unter anderem um die Messwerte für Tellurium, Molybdän und Zirconium.

Im außer Kontrolle geratenen Kraftwerk (die Whistleblower-Site cryptome veröffentliche High-Resolution-Bilder von den Zerstörungen an den Reaktorgebäuden) gehen die Arbeiten weiter, um Platz in den Tanks für das radioaktiv verseuchten Kühlwasser aus dem Reaktorgebäuden zu schaffen. Das Abpumpen dieses Wassers ist die Voraussetzung dafür, die Arbeiten an der Wiederherstellung der Steuerungs- und Kontrollfunktionen sowie an der Wiederinbetriebnahme der Kühlsysteme fortsetzen zu können. Zur Kühlung wird derzeit Süßwasser von außen zugeführt, das unter anderem von einem Frachtschiff der US-Navy angeliefert wurde; der Einsatz von Meerwasser wurde gestoppt, da befürchtet wird, die Salzkrusten, die von verdunstendem Meerwasser zurückgelassen werden, könnten die weiteren Arbeiten und die Kühlung stark behindern. Zusätzlich wurden rund 400 Liter Kunstharz am Reaktor 4 versprüht – damit soll versucht werden, radioaktiv verseuchten Staub abzubinden und die weitere Ausbreitung radioaktiven Materials zu verhindern.

Die offizielle Angabe zur Zahl der Toten und Vermissten stieg mittlerweile auf über 28.000; die japanische Polizei gibt derzeit die Zahl der Toten mit 11.578 und die Zahl der Vermissten mit 16.451 an. Diese Zahlen können aber noch weiter ansteigen.]

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

Zu den technischen Hintergründen der in Fukushima eingesetzten Reaktoren und zu den Vorgängen nach dem Beben siehe:

  • Roboter und die Katastrophe in Japan
  • Lesen in den Isotopen, Spaltprodukte aus dem AKW Fukushima I finden sich inzwischen in aller Welt und erlauben Forschern neue Einblicke in den GAU in Fernost
  • Die unsichtbare Gefahr, Technology Review ordnet die Strahlenbelastungen im AKW Fukushima Daiichi und seiner Umgebung ein
  • Japan und seine AKW, Hintergrund zu den japanischen Atomanlagen und zum Ablauf der Ereignisse nach dem Erdbeben in Telepolis
  • Der Alptraum von Fukushima, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur ErschĂĽtterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".
  • 15 Meiler um eine Stadt, Martin Kölling berichtet direkt aus Japan: Atomingenieure in Tsuruga, der Stadt mit der höchsten Reaktorendichte der Welt, gruseln sich vor dem GAU in Fukushima
  • Mobilisierung im Netz: Auch in der Katastrophenhilfe ist das Internet zu einem mächtigen Instrument geworden, auf Technology Review

(jk)