Lücken im System

Seite 2: Das Netz als Versorgungswerk

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Die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte in Deutschland steigt kontinuierlich. Um dennoch auf ihren Schnitt zu kommen, zeigen sich insbesondere Neulinge bei Abmahnungen immer kreativer.

Das Internet bietet unzählige neue Gelegenheiten für Abmahnungen – und es erleichtert Abmahnanwälten das Geschäft ungemein. Nach einmaliger Prüfung eines Musterfalls finden sie mit minimalem Aufwand viele gleichartige Verstöße. Dann können sie bei gleichem Anwaltshonorar pro Rechtsbelehrung serienweise abkassieren. Dies hat sich natürlich herumgesprochen. Das Geschäft mit dem Abmahnwesen floriert, zu den seriösen Kanzleien gesellen sich immer mehr windige Advokaten, die zusammen mit ihren Mandanten auf das schnelle Geld aus sind. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte die Rechtsanwaltsschwemme sein, die seit vielen Jahren anhält: Waren im Jahr 1990 noch 56.638 Anwälte bei den deutschen Kammern zugelassen, sind es heute mehr als 138.000. In 16 Jahren hat sich die Zahl also mehr als verdoppelt. Jährlich steigt sie kontinuierlich weiter um rund fünf Prozent. All die neuen Juristen wollen beschäftigt sein. Während alteingesessene Kanzleien die Vertretung in Bagatellfällen oftmals ablehnen, sind die frischen Kräfte am Markt nicht nur weniger wählerisch, sondern oft aus eigenem Antrieb sehr kreativ. So kommt es, dass heute Änderungen der Gesetzeslage oder neue Auslegungen von geltendem Recht blitzschnell wahrgenommen und in kostenpflichtige Abmahnungen umgemünzt werden. Ein Beispiel dafür sind die seltsamen Vorgänge um das so genannte "Hamburger Forenurteil" gegen den Herausgeber dieser Zeitschrift. Vor der im Eilverfahren ergangenen Entscheidung galt es als gängige Rechtsprechung, dass der Betreiber eines Forums für einen dort von einem Nutzer platzierten Beitrag erst nach Kenntnisnahme in Haftung genommen werden konnte. Das Urteil des Hamburger Landgerichts gegen den Heise Zeitschriften Verlag [1] weicht von diesem Prinzip ab, das aus der gesetzlich festgelegten Haftungsprivilegierung für Diensteanbieter abgeleitet ist. Lange bevor zu diesem Urteil überhaupt eine verwertbare Begründung des Gerichts vorlag, setzten Rechtsanwälte für ihre Mandanten die bewährte Praxis außer Kraft und begannen, Forenbetreiber unmittelbar kostenpflichtig abzumahnen. Der Satz "Nach Auffassung des Landgerichts Hamburg obliegt einem Forenbetreiber die volle rechtliche Haftung für online gestellte Beiträge anderer Nutzer" etwa aus der Abmahnung eines Frankfurter Anwalts klingt für den Empfänger erst einmal überzeugend. Diese Auffassung hat das Gericht aber weder wörtlich noch sinngemäß geäußert, sie entspringt einzig der Fantasie des Anwalts. Davon abgesehen ist das Urteil bis zum heutigen Tage nicht rechtskräftig. Im konkreten Fall hat sich der abgemahnte Forenbetreiber nach seinen eigenen Recherchen im Web dazu entschlossen, gegen die Abmahnung vorzugehen. Im Mai reichte er eine negative Feststellungsklage ein, um gerichtlich prüfen zu lassen, ob der Anspruch des vermeintlichen Verletzten trotz der mehr als dürftigen Begründung Bestand hat. Für ihre fehlerbehaftete Rechtsbelehrung wollte die Kanzlei vom Forenbetreiber übrigens 1843,24 Euro kassieren.

Wer sich hier auf die Aussage „licence free“ verlässt, könnte bald eine Abmahnung wegen eines Urheberrechtsverstoßes im Briefkasten vorfinden.

Häufig geraten Rechtsanwälte in den Verdacht, gemeinsame Sache mit ihren Mandanten zu machen und sich die Kostenerstattung zu teilen. Dies wäre standeswidrig und illegal – und dennoch findet es offenbar statt. Ein bekannter, seriöser Rechtsanwalt bestätigte gegenüber c't, dass er mit derlei Angeboten "zugeschüttet" wird: "Fast jede Woche ruft hier ein Marken- oder Patentinhaber an und fragt, ob ich nicht mal großflächig Verstöße recherchiere und abmahne. Die Einnahmen könnten wir ja dann teilen." Um derlei Deals zu machen, braucht man nicht einmal im Besitz einer Marke oder eines Patents zu sein. Die einfachen bürgerlichen Rechte genügen zum Beispiel für folgendes Geschäftsmodell: Der Mandant sucht am Surf-Terminal eines Internet-Cafés nach E-Card- und Newsletter-Angeboten, zu deren Anmeldung kein doppeltes Einverständnis (Double-Opt-in) erforderlich ist. Anonym oder unter falschem Namen schickt er die E-Mails an seine eigene Adresse. Die selbst gemachten angeblichen Rechtsverstöße reicht er an seinen Anwaltskompagnon weiter, der die Newsletter-Betreiber dann wegen widerrechtlichem Versand von Spam-Mails kostenpflichtig abmahnt und kassiert. Genau diesen Verdacht hegt die Staatsanwaltschaft Osnabrück gegen einen Münchener Rechtsanwalt und einen Frankfurter Jurastudenten. Weil der Anwalt in den Abmahnungen bei Nichtzahlung gleich mit dem Gang zum Gericht drohte, spricht der Osnabrücker Staatsanwalt Jürgen Lewandrowski nicht nur von gewerbsmäßigem Betrug, sondern auch von Erpressung. Dutzende solcher Abmahnungen habe der Anwalt verschickt, bislang habe das Landeskriminalamt Niedersachsen einen Schaden von mehreren 10.000 Euro festgestellt. Nach Wohnungsdurchsuchungen und dem Teilgeständnis eines der Verdächtigen komme es voraussichtlich zu einer Anklage, sagte Lewandrowski. Im Übrigen habe er bereits zu spüren bekommen, was es heißt, gegen einen Rechtsanwalt zu ermitteln: "Die Gerichte werden nun mit Beschwerden zum Ermittlungsverfahren aus der Kanzlei förmlich bombardiert. Gebracht hat es dem Anwalt bisher nichts, außer gewissen Verzögerungen im Ablauf."

Ein interner Notizvordruck zur Korrespondenz mit Abmahnopfern belegt: Die Kanzlei Schutt-Waetke plant ihre „Projekte“ generalstabsmäßig.

Einen fast schon legendären Ruf als Vater der Massenabmahnung im IT-Umfeld hat sich der Münchner Rechtsanwalt Günter Freiherr von Gravenreuth erstritten. Im Auftrag der Spieleindustrie bedachte er einst eine Menge Eltern, deren Kinder kopierte Spiele weitergegeben hatten, mit kostenpflichtigen Abmahnungen. "Ich werde nicht posten, wie viel tausende von Warez-Verfahren ich von 1984 bis Mitte der neunziger Jahre hatte. Da kommen die heutigen Verfahren bei weitem nicht ran – und das alles ohne Internet", brüstete er sich jüngst in einem Webforum. Aber auch des Internet weiß sich der Spezialist zu bedienen: In den Jahren 2000 und 2001 mahnte er serienweise Website-Betreiber ab, die Links zur Software "Web Explorer" oder "Explore2fs" gesetzt hatten. Diese verletzten die Markenrechte seiner Mandantin, der Ratinger Firma Symicron, die die Marke "Explorer" besitze, so von Gravenreuth. Etliche Gerichtsverfahren und Jahre später war klar, dass die obskure Firma kein Produkt namens "Explorer" nachweisen konnte. Die Marke wurde gelöscht, weil sie laut Gericht böswillig angemeldet worden war und darüber hinaus nichtig sei. Symicron verschwand in der Versenkung. Aber auf dem Konto des Rechtsanwalts waren in den Monaten zuvor viele Zahlungen aufgrund der Abmahnungen eingegangen. Die schiere Menge an gleichlautenden Abmahnungen, die von Gravenreuth verschickte, ließ aufhorchen. Es kam der Verdacht auf, dass er hier rechtsmissbräuchlich handelte, weil er für seine ohne Aufwand erstellten Serienbriefe meist volle Gebühren in Rechnung stellte. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist aber längst nicht jede massenhafte Abmahnung von Rechtsverstößen auch automatisch eine rechtswidrige Serienabmahnung. Es gilt vielmehr der fragwürdige Grundsatz, dass dort, wo massenhaft Rechtsverletzungen begangen werden, auch ebenso viel abgemahnt werden darf, sofern dies zur Durchsetzung berechtigter Interessen notwendig ist. Die Grenze finden diese Massenabmahnungen nach Paragraf 8 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) erst dort, wo sie missbräuchlich sind, insbesondere wenn sie vorwiegend dazu dienen, "gegen den Zuwiderhandelnden einen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen oder Kosten der Rechtsverfolgung entstehen zu lassen". Die Beweislast hierfür liegt allerdings beim Abgemahnten. Und der hat in der Praxis seine liebe Not damit, diesen Nachweis zu führen. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf hat im Februar 2001 in einem der wenigen Urteile (Az. 20 U 194/00) zum Rechtsmissbrauch durch Abmahnungen tatsächlich gegen von Gravenreuth entschieden und damit einen Präzedenzfall geschaffen: Angesichts von mehr als 80 gleichlautenden "Explorer"-Abmahnungen hätte sich die Markeninhaberin "ohne weiteres einen Musterbrief" fertigen lassen können, fanden die Richter. Wörtlich: "Auch ihr Anwalt verwendet unstreitig Abmahnschreiben mit Textbausteinen und legt die Vollmacht der Beklagten nur in Kopie vor. Übernähme die Beklagte diese Serienabmahnungen selbst, dann würden als zu ersetzende Kosten nur die reinen Portokosten und Kosten für Papier et cetera entstehen." Die Abmahngebühren von damals 1633 Mark pro Schreiben seien daher ungerechtfertigt hoch. Inzwischen gibt es auch andere Urteile, die in Einzelfällen aufgrund von Massenabmahnungen einen Rechtsmissbrauch annehmen. So entschied etwa das OLG Nürnberg Mitte 2004 (Az. 3 U 643/04) gegen einen Anwalt, der in mindestens 90 Fällen Kfz-Werkstätten wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz abgemahnt hatte. Als im Oktober 2003 ein Nürnberger Rechtsanwalt 6000 dilletantisch formulierte Abmahnungen wegen der angeblichen Verletzung eines Trivialpatents verschickte, formierte sich binnen 24 Stunden massiver Widerstand gegen die jeweils 1100 Euro teure Abmahnung im Web: Medien zitierten Patentanwälte, die die Ansprüche der Abmahner lächerlich fanden. Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Jochen Krieger richtete für einen Mandanten eine Mailingliste ein, auf der sich jeder Abgemahnte über die geplanten juristischen Schritte des Patentspezialisten informieren konnte. In kürzester Zeit hagelte es Ankündigungen von negativen Feststellungsklagen und juristischen Angriffen gegen das Patent. Ein Karlsruher Anwalt erstattete Strafanzeige gegen den Abmahnanwalt, die Ravensburger Staatsanwaltschaft nahm bereits einen Tag später ihre Ermittlungen auf. Es kam, wie es kommen musste: Völlig überrollt von der unerwarteten Gegenwehr erklärte der Patentinhaber, er sei falsch beraten worden. Sein Anwalt bestand umgekehrt darauf, er habe seinem Mandanten vertraut. Schließlich legte er sein Mandat nieder und der Patentinhaber verzichtete auf alle Forderungen. Das Patent ist mittlerweile gelöscht. Der Anwalt erhielt eine Rüge seiner Anwaltskammer, eine Strafe hat er offenbar nicht kassiert. Er praktiziert mittlerweile als Rechtsanwalt in Fürth. Diesen Fällen stehen allerdings viele andere gegenüber, in denen Gerichte bei vergleichbarem Sachverhalt zugunsten von Massenabmahnern entschieden haben. Denn wie soll man als Abgemahnter nachweisen, in welcher Zahl der gegnerische Anwalt nahezu identische Schreiben verschickt hat? Eigentlich bietet das Internet mit seinen unabhängigen Foren hervorragende Bedingungen zur Einrichtung eines "Frühwarnsystems" gegen Serienabmahnungen. Doch in dieser Funktion hat es bisher versagt. Nahezu täglich erfährt die c't-Redaktion durch ihre Leser von neuen Abmahnungen. Die Erfahrung zeigt, dass nur bei wenigen Abmahnwellen Gleichgesinnte zueinander fanden. Abmahnungsopfer gehen meist dann auf die Barrikaden, wenn die Kostennote zu saftig ist, um sie zähneknirschend zu begleichen. Doch auch dann ist die Gegenwehr meist hilflos. Nur in wenigen Fällen gelingt es, eine Betroffenen-Plattform im Web einzurichten und kompetenten Rechtsbeistand zu organisieren.