Missing Link: Die Abenteuer mit dem "Missing Link"

Der Anatom Raymond Dart sah in dem "Kind von Taung" den Missing Link in der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Doch zunächst hagelte es Kritik.

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Der Schädel des Kindes von Taung.

(Bild: Cicero Moraes (CC BY-SA 4.0))

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Detlef Borchers
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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Vor 100 Jahren untersuchte der Anatom und Paläoanthropologe Raymond Dart einen Knochenfund, der aus einem Steinbruch der Northern Lime Company in Taung im Betschuanaland stammte. 73 Tage brauchte der Spezialist von der Universität Witswatersrand, bis er den Schädel freigelegt hatte. Seine Erstbeschreibung vom "Kind von Taung" in der Zeitschrift Nature im Februar 1925 schlug wie eine Bombe in der Fachwelt auf, denn Dart erkannte in dem von ihm sogenannten "Australopithecus africanus" einen Missing Link in der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Es sollten 25 Jahre vergehen, bis die Einschätzung des Forschers allgemein geteilt wurde.

"Missing Link"
Missing Link

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Die Paläontologie ist ein Spiel, schrieb der Paläoanthropologe Yves Coppens in seinem Werk über die Wurzeln des Menschen: "Dieses Spiel, das darin besteht, die verschiedenen Arten ein und derselben Gattung, die Gattungen ein und derselben Familie oder die Familien ein und derselben Ordnung miteinander zu verbinden, wird von ebenso vielen Teilnehmern gespielt, wie es Spezialisten auf der Welt gibt. [...] Die vorgebrachten Lösungen werden veröffentlicht, damit die anderen Mitspieler jederzeit wissen, wie das Spiel steht. Die Kritiken und die neuen Modelle werden dann wiederum veröffentlicht, und das Spiel geht unbegrenzt weiter. Dabei gibt es nur vorübergehende Gewinner, da jeder Stammbaum unablässig in Frage gestellt wird, um so mehr, als es sich um den des Menschen handelt."

Raymond Dart hatte bei dem Spiel zunächst keine guten Karten. Er schätzte den von ihm untersuchten Schädel als den eines etwa sechsjährigen Kindes ein, das vor etwa drei Millionen Jahren gelebt hatte und aufrecht gehen sowie sich in der Savanne räumlich orientieren konnte. Weitere Fundstücke aus dem Steinbruch interpretierte er als Werkzeuge, womit er den Australopithecus africanus eher als Man-Ape denn als Ape-Man einordnete. Die klassifikatorische Einordnung als Familie nannte er Homo-simiadæ, den Hominiden zugerechnet. Dart hatte seine Schlussfolgerungen (PDF) Anfang 1925 an die Zeitschrift Nature geschickt, doch diese hielt sie zunächst zurück und veröffentlichte sie erst am 5. Februar 1925, begleitet von Kommentaren einflussreicher Paläoanthropologen. Sie fielen durchweg negativ aus, ganz anders als die Vorab-Meldung, die in der Johannesburger Zeitung Star erschien und eine Sensation verkündete.

Zwei Anatomen bemängelten, dass an einem jungen Kind der menschenähnliche Zustand schlecht festgestellt werden könne und verwiesen auf junge Schimpansen und Gorillas. Ein Paläoanthropologe sprach sich gegen den Knochenfund aus, weil Dart nicht selbst die geologischen Verhältnisse am Fundort untersucht hatte und dies einem Geologen aus Johannesburg überließ.

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Darts Kollegen machten sich über aufgefundene Kieselsteine lustig, die laut Dart vom Africanus als Werkzeuge genutzt wurden und verspotteten sie als "Dartefakte". Auch Darts Erklärung, dass der Vormensch sich auf der kargen südafrikanischen Savanne (dem Veldt) entwickeln musste, während die Schimpansen und Gorillas in den Wäldern genügend Nahrung fanden, lehnten sie ab. Die Out-of-Africa-Theorie, wie sie zuvor von Charles Darwin angedeutet worden war, galt damals als völlig überholt. Etliche Mitspieler standen noch ganz unter dem Eindruck des "Eoanthropus dawasoni", der 1913 in England gefunden wurde. Dieser auch als "Piltdown-Man" bekannte Knochenfund bestand aus einem mittelalterlichen Schädel mit dem Unterkiefer eines Orang-Utans. Die geschickte, erst 1953 aufgedeckte Fälschung wurde als Beweis angesehen, dass die Wiege der Menschheit auf der britischen Insel lag. Vor allem die vom Schädel hergeleitete Größe dieses Vormenschen imponierte den Zeitgenossen.

Für den Australopithecus africanus ging Raymond Dart dagegen von einer Größe von 1,25 Meter und einem Gewicht von 25 bis 30 Kilogramm aus. Der Frühe Mensch war klein und schwach. Andere Forscher standen unter dem Einfluss der "natürlichen Schöpfungsgeschichte" von Ernst Haeckel. Dieser vermutetete die Wiege der Menschheit in Südostasien im Umkreis der Lebensräume von Orang-Utans und Gibbons. Fundstücke des "Java-Menschen" aus dem Jahre 1891 unterstützten diese Theorie.

Abbildung 2 in diesem Aufsatz zeigt, welche Knochenfunde 1925 bekannt und klassifiziert waren und vergleicht sie mit dem heutigen Stand der Forschung. Man kann erkennen, wie weitsichtig Raymond Dart bei seinem "Abenteuer mit dem Mirror Link" (so der Titel seiner Autobiografie 1959) war, als er seinen Fund als frühen Menschen einordnete. Der Umschwung der Lehrmeinung begann mit der Entdeckung weiterer Fossilien in Afrika, die zum Umkreis des Australopithecus gerechnet werden konnten. Besonders einflussreich war dabei der Anatom Wilfrid Le Gros Clark, der das "Kind von Taung" 1946 selbst untersuchte und die hominide Verwandtschaft bestätigte. Mit der Entdeckung des Skeletts von "Lucy" 1974 und von dreieinhalb Millionen Jahre alten Fußabdrücken 1976 bis 1978 in Tansania wurde schließlich die Out-of-Africa-Theorie allgemein akzeptiert und das Kind von Taung endgültig zum Jahrhundertfund.

Doch was ist endgültig? Das Spiel der Paläontologie, von dem Yves Coppens, der Mitentdecker von "Lucy" schrieb, geht weiter. So manches Missing Link wartet darauf, gefunden zu werden, mancher Spieler wartet auf sein Glück, andere nicht. Vor wenigen Wochen wurde der Fall eines pfälzischen Archäologen bekannt, der es mit der Datierung seiner Funde nicht so genau nahm. Aufsehen erregte er bereits im Jahre 2017, als er in Eppelsheim bei Worms Zähne fand. Nach seiner Darstellung waren sie das Missing Link schlechthin und belegten, dass die Entwicklung des modernen Menschen nicht in Afrika begann, sondern in Rheinland-Pfalz! Dieses Ergebnis veröffentlichte er jedoch den Regeln des Spiels zufolge nicht etwa in einem internationalen Fachmagazin, sondern in einer Mainzer Zeitung.

(olb)