Interview zu Forschungsvorhaben: "Elektronische Patientenakte kein Heilsbringer"
Warum Forschung mit den Daten aus der elektronischen Patientenakte unmöglich ist, erklärt der ehemalige IQWiG-Leiter, Jürgen Windeler. Auch KI ändert nichts.
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Die elektronische Patientenakte (ePA) wird von manchen als "Game Changer" im Gesundheitswesen gesehen. Rasant wachsende Datenmengen sollen dank Künstlicher Intelligenz eine "tiefgehende Analyse individueller Gesundheitsdaten" ermöglichen und neue und bisher unzugängliche Erkenntnisse auf Bevölkerungsebene liefern, wie aus einer Pressemitteilung der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) hervorgeht. "Damit wir die Potenziale von KI nutzen können, ist die Erschließung vorhandener Datenbestände wie Real World Data, ePA-Daten oder Daten aus Registern nötig", sagte Sebastian C. Semler von der TMF. Um das zu realisieren, fordern Experten wie Prof. Ariel Dora Stern vom Hasso-Plattner-Institut eine "höhere Risikobereitschaft und mehr Wettbewerb um die besten KI-Tools".
Erst kürzlich sprach auch Susanne Ozegowski, Abteilungsleiterin für Digitalisierung und Innovation im BMG, im Podcast "Mit Daten heilen" über die Chancen der elektronischen Patientenakte, dem Forschungsdatenzentrum Gesundheit und dem Europäischen Gesundheitsdatenraum. Wie Daten heilen können, ging aus der Podcast-Folge jedoch nicht hervor. Keine Beachtung fand die elektronische Patientenakte in Hinblick auf Forschung hingegen in der jüngsten Stellungnahme "Wirksame Prävention braucht verlässliche Gesundheitsdaten" des Expertenbeirats der Bundesregierung.
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Für eine Einordnung der Hoffnungen, die mit der elektronischen Patientenakte und auch im Zusammenspiel mit KI verbunden sind, haben wir mit Prof. Jürgen Windeler gesprochen. Er ist ehemaliger Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und ausgewiesener Experte im Bereich der klinischen Epidemiologie.
Wird die elektronische Patientenakte ein Heilsbringer sein?
Was die Kommunikation angeht, könnte eine ePA Vorteile bringen, wobei in den Praxen viele Prozesse bereits digitalisiert sind. Es gibt auch ohne neue ePA schon Praxen, bei denen alles komplett elektronisch läuft.
Woher die "dramatischen Verbesserungen der Versorgung", die der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach verspricht, kommen sollen, ist mir allerdings unklar. Durch die ePA jedenfalls nicht. Als Heilsbringer ist die neue ePA völlig ungeeignet.
Wird die "ePA für alle" personalisierte Medizin ermöglichen?
Personalisierte Medizin ist jetzt schon möglich und wird auch dort praktiziert, wo sie sinnvoll ist. Dazu braucht es die ePA nicht.
Angedacht sind auf Basis von schneller möglich werdenden Forschungsprojekten auch deutlich beschleunigte Zulassungen wie durch die US-Medizinaufsicht Food and Drug Administration (FDA). Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Es ist offensichtlich, dass die ePA für Forschungsprojekte mit Medikamenten, die noch gar nicht auf dem Markt sind, die in der ePA also gar nicht auftauchen können, nutzlos ist. Der Trend zu immer früheren Zulassungen, was nur heißen kann, mit immer unreiferen Daten, ist aber grundsätzlich keine gute Idee.
Lassen sich durch die ePA Arzneimittelskandale wie den Lipobay-Skandal oder andere Vorfälle, die auf Medikamentenwechselwirkungen basieren, verhindern?
Ganz sicher nicht. Man könnte sich vorstellen, dass solche Zusammenhänge eher erkannt werden, aber das ist graue Theorie.
Es wird immer wieder gesagt, dass Deutschland keine eigenen Daten hat, sondern auf die Daten anderer Länder angewiesen ist. Stimmt das?
In der Tat ist Deutschland Nutznießer von Studien, aber nicht von Daten. Das hat damit etwas zu tun, dass die klinische Forschung in Deutschland unterentwickelt ist, um das mal vorsichtig auszudrücken. Es wird oft erzählt, dass in Deutschland viele Studien gemacht werden, in Bezug auf die Bevölkerungszahl stimmt das jedoch nicht – da laufen wir unter ferner liefen. Und dabei geht es oft nur darum, an Studien der Pharmaindustrie teilzunehmen. Mit eigener Forschung hat das wenig zu tun. Deutschland hat leider keine gute Kultur der klinischen Forschung.
Alle Studien, die zum Beispiel zum Mammografie-Screening gemacht wurden, kommen aus dem Ausland. Darauf basieren dann auch deutsche Systementscheidungen zur Einführung oder gerade vor Kurzem zur Änderung des Screenings. Insofern stimmt das mit dem Nutznießen. Das liegt aber nicht daran, dass wir bisher keine elektronische Patientenakte hatten, in der viele Daten zusammenlaufen. Es liegt daran, dass wir keine Forschungskultur haben. Durch die ePA-Daten wird das nicht besser. Für Forschung, die die Versorgung verbessert und international konkurrenzfähig ist, braucht es gezielt erhobene, qualitätsgesicherte Informationen, nicht irgendeinen Datenhaufen.
Die Abrechnungsdaten liegen bereits im Forschungsdatenzentrum Gesundheit. Sind diese Daten fĂĽr die Forschung geeignet?
Daten aus dem System könnten helfen, wenn man beispielsweise die Folgen gesetzlicher Regelungen oder von G-BA-Entscheidungen evaluieren will (Anm. d. Red.: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Zahnärzten und Psychotherapeuten). Es gibt auch andere Forschungsfragen, etwa nach der Häufigkeit einer bestimmten Diagnose, dem Vorkommen von Depression in Deutschland. Damit wäre, wenn überhaupt, eine Beschreibung des Status quo möglich. Bekanntermaßen sind Abrechnungsdaten für solche Forschung jedoch schlecht geeignet, weil sie natürlich mit einer bestimmten Zielsetzung dokumentiert werden, und dieses Ziel heißt "Abrechnung".
Es liegt im Ermessen der Ärzte, bestimmte Dinge hineinzuschreiben oder eben auch nicht. An dokumentierten Diagnosen hängt insbesondere die Frage von Zahlungen im DRG-System im Krankenhaus. Im ambulanten Bereich können Angaben bei der Abrechnung etwas damit zu tun haben, dass ein Patient die Kosten für ein Medikament nur in Verbindung mit einer bestimmten Diagnose von der Krankenkasse erstattet bekommt. Abrechnungsdaten sind auf Abrechnungsmodalitäten optimiert. Damit können Sie keine vernünftige Forschung machen.
Was mĂĽssen Forscher bedenken, wenn Sie mit den Daten aus der ePA arbeiten?
Die ePA-Daten unterliegen vielfältigen Verzerrungen. Das beginnt damit, dass die Daten der Privatversicherten, damit zehn Prozent der deutschen Versicherten, nicht in der ePA drin sind und dass die Weitergabe der Daten Privatversicherter für die Zukunft (vorerst) nicht geplant ist.
Dann kommt hinzu, dass die Menschen, die die ePA haben, Informationen aus der ePA abwählen können. Sie erhalten also eine Verzerrung dadurch, dass beispielsweise alle oder die Hälfte der HIV-Patienten nicht möchte, dass ihre HIV-Diagnose in der ePA steht.
Forscher werden also mit unvollständigen, verzerrten Daten arbeiten müssen, eine Situation, die man in der Forschung bestmöglich vermeidet. Es wird dann gesagt, das sei ja "explorative Forschung". Aber das heißt nur, dass man sich berechtigt fühlt, unzuverlässige Ergebnisse in die Welt zu setzen und anderen die Überprüfung mit sorgsamen Methoden zu überlassen. So wird Deutschland sicher nicht Forschungs-Weltmeister.
In den Debatten zum Thema wurde KI auch schon mit dem Taschenrechner oder anderen technischen Errungenschaften verglichen. Menschen nutzen schlieĂźlich auch Dinge, die sie nicht verstehen, etwa einen Computer. Was sagen Sie dazu?
Kein Taschenrechner ist mit so abenteuerlichen Versprechungen bedacht worden wie KI oder wie die ePA. Vor Kurzem konnte man beispielsweise lesen, dass KI die Lebenserwartung um 1,5 Jahre erhöhen kann. Genau genommen ist das ziemlich wenig – durch Rauchverzicht könnte man sie um 5-10 Jahre verlängern. Aber ein Kollege hat das treffend kommentiert: Wenn er sich die ganzen Innovationsankündigungen der letzten 30 Jahre anschaue, dann müssten wir alle schon 150 Jahre alt sein, wenn das alles eingetroffen wäre. Die dramatische Verbesserung durch ePA, von der Herr Lauterbach spricht, wird es nicht geben.
Vor dem Hintergrund finde ich es sehr fragwürdig, dass es eine widerspruchsbasierte Lösung für die elektronische Patientenakte gibt – man sie also "automatisch" bekommt, wenn man nicht widerspricht. Nichts spricht grundsätzlich gegen eine ePA, aber am deutschen Konzept müsste sich schon Gravierendes ändern, damit man eine Opt-out-Regelung überhaupt erwägen kann. Mit dem Thema Forschung kann man aktuell kein Opt-out begründen.
Was müssen die Versicherten wissen, damit sie eine Entscheidung treffen können?
Sie müssen wissen, dass viele herausgestellte Vorteile nichts als vage Ankündigungen sind. Dies gilt ganz besonders für gesundheitliche Verbesserungen und Forschungsergebnisse. Und über die Risiken muss umfassend und verständlich informiert werden – vorwiegend darüber, wer Einblick nehmen kann, sowie über die Weitergabe und Sicherheit der Daten. Es ist doch geradezu ein Witz, dass einerseits von den grandiosen Fähigkeiten einer KI geschwärmt und gleichzeitig versichert wird, dass Pseudonymisierung für die nächsten 100 Jahre "absolut sicher" sei.
Eigentlich müssten Krankenkassen über die Risiken aufklären, wie Banken über Geldanlagen. Erst danach sollte nach Einwilligung des Versicherten eine ePA angelegt werden dürfen. Mit der Einwilligung sollte aber festgelegt werden, über welchen Zeitraum welche Daten gesammelt und weitergegeben werden dürfen, an wen und wofür. Das wäre ein Szenario, das die rechtlichen und ethischen Voraussetzungen erfüllt, die in anderen, nicht so sensiblen Geschäftsbereichen gelten. Dass die Daten 100 Jahre verfügbar sind, weiß in der Öffentlichkeit vermutlich niemand.
Darüber wissen die meisten gesetzlich Versicherten wahrscheinlich auch nicht Bescheid. Frau Ozegowski hat kürzlich angekündigt, dass für eine Aufklärungskampagne zum Thema Datenausleitung keine Haushaltsmittel zur Verfügung stehen. Mit dem Berechtigungsmanagement für den Zugriff auf die Daten wird ein Großteil der Bevölkerung nicht zurechtkommen. Gleichzeitig weisen die Krankenkassen darauf hin, dass die Versicherten darauf achten sollten, dass die Akte vollständig ist und fordern dazu auf, nicht zu viele Leistungserbringerinstitutionen von ihrer Patientenakte auszuschließen?
Ja, eine interessante Botschaft: Versicherte sollen doch bitte die Entscheidungsmöglichkeiten, die das Gesetz festlegt, nicht nutzen. Mir ist unverständlich, warum keine vernehmbare Kritik von der Bundesärztekammer oder deren Ethikkommission kommt oder von Patientenorganisationen. Das betrifft verschiedene Regelungen der "neuen" ePA, aber an einem Punkt sollten eigentlich alle Warnleuchten angehen: bei der Relativierung oder Verletzung der Schweigepflicht.
Nehmen wir an, wir haben die ganzen Gesundheitsdaten beim FDZ. Jetzt sollen KI-Modelle von Google, OpenAI und Co. damit trainiert werden. In welcher Form sorgt das fĂĽr einen medizinischen Fortschritt, der auf einem gemeinwohlorientierten Forschungszweck fuĂźt?
Keine Ahnung. Das Gemeinwohl wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gestrichen. Jetzt darf jeder, dessen Fantasie für die Kreation eines "Zwecks" ausreicht, mit den Daten "forschen". Vielleicht sichert das Arbeitsplätze bei Firmen, aber inwieweit sich aus diesen Aktivitäten gesundheitliche Vorteile für Versicherte in Deutschland ergeben, steht in den Sternen.
(mack)