Weniger ist mehr: Was guten Code (und gute Architektur) kaputtmacht
Je erfahrener ein Entwickler oder eine Architektin ist, desto besser die Ergebnisse – sollte man meinen. Doch tatsächlich ist häufig das Gegenteil der Fall.
(Bild: Erstellt mit KI (Midjourney) durch iX-Redaktion)
- Golo Roden
Vielleicht kennen Sie die Situation: Sie öffnen ein Projekt, das jemand anderes entwickelt hat, und schon nach wenigen Minuten denken Sie sich:
"Das ist aber ganz schön kompliziert implementiert!"
Je mehr Code Sie lesen, desto stärker beschleicht Sie das Gefühl, dass vieles unnötig komplex ist. Häufig sind es Abstraktionsebenen, die Dinge verschleiern, die eigentlich pragmatisch und einfach hätten gelöst werden können. Solche Ansätze machen den Code schwer verständlich – und das gilt nicht nur für den Code, sondern auch für die Architektur eines Projekts. Vielleicht haben auch Sie schon einmal das Gefühl gehabt, dass weniger darauf geachtet wurde, guten Code zu schreiben, sondern dass jemand sich an einer übertriebenen Komplexität verkünstelt hat.
Genau darum geht es heute: Architektur sollte im Idealfall unsichtbar sein. Doch was bedeutet das genau? Und wie können Sie dieses Prinzip für sich nutzen?
Gute Architektur ist unsichtbar
Fangen wir mit der Frage an, was es bedeutet, dass eine gute Architektur unsichtbar ist. Ein Vergleich mit der Realität hilft, das zu verdeutlichen. Denken Sie an beeindruckende Bauwerke: vielleicht an eine moderne Villa, bei der jedes Detail passt und alle Entscheidungen nahtlos ineinanderfließen. Oder an ein historisches Bauwerk wie den Kölner Dom, das architektonisch ebenfalls fasziniert. Der entscheidende Punkt ist: Sie bewundern in beiden Fällen das Bauwerk als Ganzes. Sie wissen zwar, dass dahinter eine durchdachte Architektur steckt, diese drängt sich Ihnen aber nicht auf. Vielmehr wirkt alles wie ein schlüssiges Gesamtbild, bei dem man spürt, dass alle Details durchdacht sind. Das heißt, gute Architektur tritt in den Hintergrund und fordert nicht ständig Ihre Aufmerksamkeit.
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Natürlich ließe sich alternativ auch ein Bauwerk schaffen, bei dem jede architektonische Entscheidung überdeutlich sichtbar wird. Das mag zwar schick aussehen, würde aber den Eindruck einer überambitionierten Studie vermitteln, die mehr Selbstzweck als Grundlage für ein großartiges Bauwerk ist. Und genau das meine ich, wenn ich sage: Gute Architektur ist unsichtbar. Sie schafft Strukturen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.
Architektur trifft Softwarearchitektur
Dieses Prinzip gilt nicht nur für Bauwerke, sondern auch für Software. Auch hier ist Architektur kein Selbstzweck. Sie sollte ein solides Fundament liefern, auf dem eine gut strukturierte, wartbare und langfristig nutzbare Software entstehen kann. Wenn eine Architektur diese Ziele erfüllt, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen, ist sie gelungen. Wenn sie diese Ziele hingegen verfehlt oder unnötig in den Vordergrund rückt, ist sie schlecht.
Bis hierhin klingt das alles vielleicht recht einleuchtend. Doch wenn es so einfach wäre, würden wir nicht so häufig auf Projekte stoßen, bei denen wir uns denken:
"Was ist das denn? Was hat sich da bloĂź jemand gedacht?"
Über die Jahre fällt dann ein Muster auf: Menschen, die gerade erst mit der Programmierung beginnen, entwickeln oft einfache und pragmatische Lösungen – allein schon deshalb, weil sie es nicht anders können. Mit wachsendem Wissen neigen Entwicklerinnen und Entwickler jedoch dazu, Probleme immer stärker zu abstrahieren. Das wird uns in der Ausbildung schließlich so beigebracht: Der Versand einer Word-Datei wird abstrahiert zu "Dateiversand", dieser wiederum zur Nachricht eines Senders an einen Empfänger – und am Ende reden wir nur noch abstrakt über "Messaging". Dabei wollte man ursprünglich einfach nur eine Word-Datei per E-Mail versenden.
YAGNI – You Ain't Gonna Need It
Das Problem dabei ist oft zu viel und vor allem zu frühe Abstraktion. Jede Abstraktion führt zu einer weiteren Indirektion, die den Code schwerer verständlich macht. Statt den eigentlichen Gedankengang der Entwicklerin oder des Entwicklers im Code nachvollziehen zu können, muss man diesen gedanklich zunächst auf eine andere Ebene übersetzen. Je mehr solche Ebenen es gibt, desto schwieriger wird es, den Code zu verstehen. Dabei wird Code jedoch nur einmal geschrieben, aber viele Male gelesen. Der Fokus sollte daher viel eher auf Lesbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit liegen, nicht auf möglichst vielen Abstraktionen. Das "You Ain’t Gonna Need It"-Prinzip (YAGNI) ist nicht ohne Grund ein Leitmotiv in der Softwareentwicklung: Keep it simple! Dieses Prinzip gilt für Code genauso wie für Architektur.
Ein zentraler Aspekt ist die klare Definition von Verantwortlichkeiten: Welche Funktion, Klasse oder welcher Service ist wofür zuständig? Die Prinzipien der niedrigen Kopplung und der hohen Kohäsion helfen hier: Einzelne Elemente sollten möglichst unabhängig voneinander existieren, während alles, was zu einer Aufgabe gehört, an einem Ort zusammengeführt wird. Wenn Sie also einen Fehler beheben müssen, sollte die Änderung an einer Stelle genügen, ohne andere Teile des Systems zu beeinflussen.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein Beispiel aus der Praxis verdeutlicht das: In einem Code-Review stieß ich auf eine unnötige Abstraktion in einer Go-Codebasis. Anstatt einen Pointer zu verwenden, um auszudrücken, dass ein Wert optional ist, hatte die Entwicklerin einen Maybe-Typ eingeführt – ein Konzept aus der funktionalen Programmierung. Dieser Typ war jedoch nur an einer einzigen Stelle im Code verwendet worden, was weder konsistent noch sinnvoll war. Ein einfacher Pointer hätte denselben Zweck erfüllt und wäre deutlich verständlicher und weniger fehleranfällig gewesen.
Das Problem unnötiger Abstraktion tritt nicht nur auf Code-, sondern auch auf Architekturebene auf. So wird manchmal ein Microservice eingeführt, nicht weil er notwendig ist, sondern um das Konzept eines Microservices umzusetzen. Das führt zu unnötiger Komplexität und verfehlt das eigentliche Ziel, die Struktur und Verständlichkeit der Software zu verbessern.
Lesbarkeit schlägt Schreibbarkeit
Warum verkünsteln sich erfahrene Entwicklerinnen und Entwickler so oft? Ein Grund ist der Wunsch nach Perfektion, ein anderer das Streben nach Anerkennung. Es ist wichtig, sich diesen Effekt bewusst zu machen und den eigenen Code und die eigene Architektur zu reflektieren. Code-Reviews und Pair-Programming können hier helfen, denn sie fördern pragmatische Ansätze und die Verständlichkeit für andere.
Architektur und Code sind Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Sie sollten die fachlichen Anforderungen und die Bedürfnisse des Teams in den Mittelpunkt stellen. Lösungen sollten iterativ und pragmatisch entwickelt werden. Fragen Sie sich stets: Braucht das Team diese Abstraktion wirklich, oder verkompliziert sie die Dinge nur unnötig?
(rme)