eHealth: Coden und KI in der Gastroenterologie & wo bislang der Durchbruch fehlt

Digitale Methoden spielen auch in der Gastroenterologie eine Rolle. Was möglich ist und wo die Grenzen liegen, darüber haben wir mit Professor Hann gesprochen.

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3D-Darm fĂĽr VR-Simulation und einen mit KI detektierten Polypen. Links ist Code zu sehen.

Links ist Code zu sehen, daneben ein 3D-Darm fĂĽr VR-Simulation und ein mit KI detektierter Polyp.

(Bild: Alexander Hann, Universitätsklinikum WĂĽrzburg)

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

KI und VR spielen auch in der digitalen Medizin zunehmend eine Rolle, Simulationen können etwa helfen, auf den Ernst im Operationssaal vorzubereiten. Was alles im Bereich der Gastroenterologie möglich ist, und wo bislang die Grenzen liegen, darüber haben wir mit Alexander Hann gesprochen.

Alexander Hann will die Digitalisierung in Forschung, Lehre, Vorsorge und Behandlung im Bereich der Verdauungsorgane vorantreiben.

(Bild: Daniel Peter)

Hann bekleidet seit März 2023 die Professur für Digitale Transformation in der Gastroenterologie am Universitätsklinikum Würzburg.

Welche Hoffnungen gibt es in Bezug auf KI bei der DarmkrebsfrĂĽherkennung?

Dickdarmkrebs zählt zu den häufigsten Krebserkrankungen bei Männern und Frauen – sowohl in Deutschland als auch weltweit. Das Besondere: Diese Krebsart lässt sich verhindern, da sie über gut erkennbare Vorstufen, sogenannte Adenome, entsteht. Adenome sind Polypen, also Schleimhautwucherungen, bei denen vermehrt Zellen wachsen.

Kleines Adenom (unten, mittig) welches im Rahmen der Darmkrebsvorsorge entfernt wird.

(Bild: Alexander Hann, Uniklinikum Würzburg)

Aus kleinen Polypen können über Jahre größere werden, und durchschnittlich nach etwa zehn Jahren entwickelt sich daraus Krebs – meist im Alter zwischen 60 und 65 Jahren. Deshalb ist die Vorsorge ab 50 Jahren so wichtig.

Seit wann ist KI in der Darmkrebsvorsorge zugelassen, und welche Hürden gibt es bei der flächendeckenden Anwendung?

KI wird seit ungefähr 2019 in der Darmkrebsvorsorge angewendet. Mittlerweile bieten alle großen Hersteller entsprechende Systeme an. Die Gastroenterologie ist damit eine der ersten Disziplinen, die Deep-Learning-Modelle auf Basis großer Bilddatensätze einsetzt. Allerdings bedeutet das nicht, dass die Technologie überall angewendet wird. Die KI erkennt Polypen und markiert sie während der Untersuchung mit einer sogenannten Bounding-Box. Diese Systeme werden als CADe (Computer Assisted Detection Systems) bezeichnet und unterstützen endoskopische Untersuchungen.

Gibt es solche Systeme auch in anderen Bereichen der Medizin?

Ja, beispielsweise werden CADe-Systeme in der Mammographie zur Brustkrebsfrüherkennung als Zweitmeinung für Radiologen eingesetzt. Auch bei Prostata- oder Lungenkrebs helfen sie, Metastasen frühzeitig zu erkennen. Die US-amerikanische FDA führt eine Liste zugelassener KI-basierter Medizinprodukte – die meisten davon stammen aus der Radiologie oder Kardiologie. In der Gastroenterologie wurden jedoch bislang die meisten randomisierten Studien durchgeführt.

Sind die Systeme in der Gastroenterologie also besonders grĂĽndlich erforscht?

Absolut. Es gibt viele zugelassene KI-Anwendungen, aber in der Gastroenterologie wurden bereits ĂĽber 40 randomisierte klinische Studien durchgefĂĽhrt, mit weltweit mehr als 30.000 so untersuchten Patienten.

Durch den Einsatz von KI konnten in Studien signifikant häufiger Krebsvorstufen entdeckt werden – im Schnitt 8 Prozentpunkte mehr. Das ist erfreulich und entspricht genau dem, was ich mir als Endoskopie-Anwender wünsche: Mit KI finde ich mehr. Allerdings zeigten die ersten Studien einen stärkeren Effekt als neuere Daten.

Statistiker des British Medical Journal (BMJ) haben 40 randomisierte Studien in einer Meta-Analyse ausgewertet und sich gefragt: Was sind eigentlich die relevanten Endpunkte fĂĽr Betroffene? Ob ich nun ein paar Vorstufen mehr oder weniger finde, bringt fĂĽr sich genommen noch keinen direkten Nutzen fĂĽr die Patienten.

Warum ist das so?

Die bisherigen randomisierten klinischen Studien zur Darmkrebsvorsorge untersuchen üblicherweise nicht, wie viele Krebsfälle tatsächlich verhindert werden oder ob Menschen dadurch länger leben. Um diese Fragen zu beantworten, wären Langzeitstudien nötig – doch die Technologie ist erst seit 2019/2020 verfügbar.

Wir wissen aber aus über 20 Jahren Forschung, dass die Anzahl der Adenome (also Polypen als Vorstufen von Darmkrebs) im Darm mit dem späteren Auftreten von Krebs und mit den Überlebenschancen der Betroffenen korreliert. Die Statistiker vom BMJ haben ein Mikrosimulationsmodell entwickelt und gezeigt: Setzt man KI bei 10.000 Patienten über zehn Jahre ein, werden lediglich zwei dickdarmkrebsbedingte Todesfälle verhindert – ein sehr geringer und statistisch nicht signifikanter Effekt. Das BMJ empfiehlt daher, KI in diesem Bereich nicht routinemäßig einzusetzen.

Die wirklich relevanten Endpunkte für Patientinnen und Patienten – etwa die Verhinderung von Todesfällen – fallen also deutlich geringer aus als erhofft. Das ist ernüchternd. Diese Daten wurden drei Fachgesellschaften vorgelegt, und keine der drei konnte einen klar positiven Effekt feststellen. Die Europäische Endoskopiefachgesellschaft (ESGE) etwa erklärte, dass Patienten, die sich für eine Endoskopie entscheiden, KI gerne nutzen würden – in der Hoffnung, einer der wenigen zu sein, die tatsächlich profitieren. Werden mehr Krebsvorstufen entdeckt, kann das allerdings dazu führen, dass Kontrollintervalle verkürzt werden und Patienten häufiger zur Nachsorge erscheinen müssen. Das bedeutet, sie müssen häufiger Termine wahrnehmen und ihren Alltag anpassen. Schwere Nebenwirkungen wie Todesfälle oder Blutungen wurden jedoch nicht beobachtet.

Auch die American Gastroenterology Association (AGA) wurde mit den Daten konfrontiert. Nach mehreren Beratungen und einer öffentlichen Kommentarrunde entschied sie, keine Empfehlung für oder gegen den Einsatz der Technologie auszusprechen – ein Novum, da Leitlinienkommissionen üblicherweise eine klare Position beziehen.

Besteht durch den KI-Einsatz die Gefahr des "De-Skilling"?

Ja, das ist möglich. In einer Studie haben wir Videos mit und ohne KI-Unterstützung gezeigt und mittels Eye-Tracking analysiert, wie sich der Blick und die Bildanalyse der Probanden verändern. Es zeigte sich, dass das Monitorbild signifikant weniger gründlich nach Krebsvorstufen abgesucht wurde, wenn die KI-Unterstützung eingeschaltet war – die Nutzer verlassen sich zunehmend auf die Technologie. Das birgt die Gefahr, dass bestimmte Fähigkeiten verloren gehen oder sich erst gar nicht ausbilden. Allerdings gibt es hierzu bislang nur wenig Forschung und wir müssen vorsichtig sein, endgültige Schlüsse zu ziehen.

Wie unterscheiden sich die Systeme der verschiedenen Hersteller?

Bei der Auswahl eines KI-Systems interessiert natürlich auch, wie sich die Systeme im Vergleich entwickeln und wie sie sich durch Updates verändern. In einer weiteren Studie konnten wir zeigen, dass manche Systeme nach Updates schneller reagieren, nach einem Wechsel des Detektionsmodus aber wieder langsamer werden. Hier wäre es schön, wenn Hersteller solche Angaben selbst publik machen würden.

In unserer vorhin erwähnten Eye-Tracking-Studie wurde ebenfalls untersucht, wie Anfänger und Fortgeschrittene Bilder auswerten. Dabei zeigte sich: Die Maschine erkennt Polypen deutlich schneller als der Mensch. Wenn Mensch und Maschine jedoch zusammenarbeiten, geht der Zeitvorteil der Maschine verloren, da der Mensch jede Detektion überprüfen muss. Falsch-positive Detektionen der KI führen dazu, dass der Mensch sich nicht mehr vollständig auf die KI verlassen kann. Hier wäre es sinnvoll, "kurze Blinker" zu unterdrücken, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen. Die Mensch-Maschine-Interaktion ist ein wichtiges Forschungsthema, das noch viel Aufmerksamkeit benötigt. Universitätskliniken sollten sich einen kritischen Blick auf diese Technologien leisten.

Wie sollten solche Technologien in die Versorgung integriert werden?

Ich finde es sehr positiv, dass in Deutschland einige Zentren existieren, in denen Mitglieder der Fachbereiche Medizin, Informatik und Ingenieurwesen gemeinsam an Projekten arbeiten. Zum Beispiel entwickeln wir gerade ein interaktives Portal für Kochrezepte mit der Zielgruppe Patientinnen und Patienten, die während einer Chemotherapie unter Geschmacksstörungen leiden. Mithilfe eines Large Language Models und der Unterstützung von Ernährungswissenschaftlern empfehlen wir Patienten Rezepte, die zu ihren Geschmacksstörungen passen. Das Projekt "Gustabor" wird vom Bayerischen Zentrum für Krebsforschung (BZKF) gefördert.

Ich bin überzeugt, dass die Zukunft in der interdisziplinären Zusammenarbeit liegt, bei der Kliniken und Praxen die nötigen Daten bereitstellen.

Werden die Daten durch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz besser zugänglich?

Aus wissenschaftlicher Sicht zeigt sich: Wenn eine KI mit Daten aus dem eigenen Zentrum trainiert wird und dann auf Daten eines anderen Zentrums trifft, sinkt die Leistung oft deutlich. Das liegt unter anderem an unterschiedlichen Bildaufnahme-Prozessoren und Datenaufbereitungen, vor allem aber an der variierenden Datenqualität. Die Entwicklung einer performanten KI ist daher angewiesen auf einen multizentrischen, am besten prospektiv erhobenen Datensatz.

In der Praxis gehen wir derzeit wie folgt vor: Für die Nutzung retrospektiver Daten des eigenen Zentrums stellen wir in den Zentren jeweils einen Ethikantrag und schließen bei multizentrischen Erhebungen ein Data-Sharing-Agreement ab. Bei prospektiven Daten holen wir zusätzlich von allen eingeschlossenen Patienten Einverständniserklärungen vor Studieneinschluss ein.

Wer profitiert von Ihren unter MIT-Lizenz veröffentlichten Projekten?

Unsere Software wird neben Deutschland weltweit heruntergeladen, etwa in den USA, Japan oder China. Die größten Endoskopie-Hersteller stammen aus Japan. Unsere Daten stellen wir über die Forschungsseite der Uniklinik zur Verfügung.

Ein Ziel unserer Arbeit ist die Automatisierung der strukturierten Berichterstellung. Unsere KI erkennt in Echtzeit verschiedene Befunde im Videofeed während der Untersuchung und schlägt einen strukturierten Bericht vor. Dafür nutzen wir auf Bilderkennung spezialisierte neuronale Netze.

Wie funktioniert das konkret?

Unsere Polypendetektions-KI erkennt beispielsweise ebenfalls die eingefĂĽhrten Instrumente einschlieĂźlich Resektionswunden und dokumentiert anhand dessen, wenn ein Polyp abgetragen wurde. Die Software erstellt dazu Timestamps und generiert am Ende einen Bildbericht.

Sie haben auf der DMEA auch von einer Game-Designerin berichtet. Was hat es damit auf sich?

Wir arbeiten an einem Drittmittelprojekt, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zur Erforschung von Alternativmethoden zum Tierversuch, in dem wir einen Simulator in Virtual Reality (VR) entwickeln, um endoskopische Eingriffe tiermaterialfrei zu üben. Die Blutstillung bei Magen- und Darmblutungen steht hier im Mittelpunkt. Mit einer Game-Designerin, einem Ingenieur und einer Ärztin wollen wir diese VR-basierte Alternative schaffen. 2019 haben wir zu der Thematik zum Beispiel auch eine Studie über eine intuitive Zoom-Methode mittels VR im gastroenterologischen Fachjournal Gut publiziert.

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Wie kann KI in der Lehre eingesetzt werden?

Wir nutzen KI, um künstliche Bilder von Darmkrebsvorstufen für Lehrzwecke zu generieren – ähnlich wie ein Bildgenerator. So können wir gezielt Trainingsmaterial für die Ausbildung bereitstellen, ohne patientenbezogene Bilder verwenden zu müssen. Ich bin überzeugt, dass der gezielte Einsatz von KI im Lehrbereich große Vorteile bietet.

Vision, wie endoskopische Blutstillung in VR geĂĽbt werden kann.

(Bild: Universitätsklinikum Würzburg)

Wer fördert Ihre umfangreichen Forschungsarbeiten?

Unsere Projekte werden durch Stiftungen und öffentliche Drittmittelgeber gefördert, etwa dem Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt, dem Bayerischen Zentrum für Krebsforschung, der Wilhelm Sander-Stiftung, der Deutschen Krebshilfe und insbesondere der Eva Mayr-Stihl Stiftung. Hinzu kommen wichtige Kooperationspartner wie das Klinikum Stuttgart. Sollte eines unserer selbst entwickelten KI-Systeme als zertifiziertes Medizinprodukt zugelassen werden, benötigen wir einen Industriepartner. Ich selbst möchte mich mit der Arbeitsgruppe weiterhin auf die Erforschung und Entwicklung von Prototypen mit einem direkten klinischen Nutzen konzentrieren und keinen Vertrieb übernehmen.

(mack)