Nerven auf der Streckbank
Durchtrennte Nerven wachsen oft nicht schnell genug nach, bevor ihre für die Heilung unerlässliche Schutzhülle abstirbt. Ersatznerven, die sich im Labor durch mechanischen Zug extrem schnell entwickeln, könnten Abhilfe schaffen.
- Kristina Grifantini
Durchtrennte Nerven wachsen oft nicht schnell genug nach, bevor ihre für die Heilung unerlässliche Schutzhülle abstirbt. Ersatznerven, die sich im Labor durch mechanischen Zug extrem schnell entwickeln, könnten Abhilfe schaffen.
Die in der Petrischale in zwei Reihen angeordneten schwarzen Pünktchen sehen auf den ersten Blick eher unscheinbar aus, ein wenig erinnern sie an gemahlenen Pfeffer. Zwischen ihnen verlaufen haarfeine Fäden. Jeder schwarze Punkt ist ein Konglomerat aus Tausenden von Nervenzellen, erklärt Professor Douglas Smith von der Universität von Pennsylvania. Die Fäden wiederum bestehen aus Tausenden von Axonen, jenen langen, schlanken Nervenfortsätzen, die hereinkommende elektrische Signale zu benachbarten Nerven- oder Muskelzellen weiterleiten. Die in seinem Labor gezüchteten Nervenbündel sollen, so hofft der Neurochirurg, bisher irreparable Nervenschäden überbrücken helfen.
Solche Schäden entstehen, wenn etwa ein Armnerv durchtrennt oder stark gequetscht wird, denn der armseitige Teil stirbt ab. Das hat fatale Folgen: Die Muskeln, denen er zuvor Steuerimpulse gegeben hat, werden gelähmt. Der körpernahe Nervenabschnitt hat zwar die Fähigkeit zur Regeneration, wächst aber nur etwa einen Millimeter pro Tag. Jetzt beginnt ein Rennen gegen die Zeit: Der wachsende Nerv muss es schaffen, die komplette ausgefallene Strecke zu den Muskeln zu überwinden und die Kontakte zu ihnen neu zu knüpfen – und zwar bevor sich auch der körperferne Teil der schützenden Nervenscheide nach drei Monaten zu zersetzen beginnt. Das geschieht anscheinend, weil die Hülle kein lebendes Gewebe mehr umgibt. Dann hat der Nerv buchstäblich keinen Halt mehr, um in die richtige Richtung zu wachsen.
Wird zum Beispiel ein Nerv im Handgelenk durchtrennt, kann er die Distanz zu den Handmuskeln meist rechtzeitig überwinden und ihnen ihre Bewegungsfähigkeit wiedergeben. Würde aber derselbe Nerv in der Schulter verletzt, würde der Patient fast sicher die Einsatzfähigkeit seiner Hand einbüßen. Der neu wachsende Nerv würde das Ziel nicht rechtzeitig erreichen, bevor die Hülle abstirbt. Deshalb überlegte Smith, dass er die Regeneration erleichtern könnte, wenn er im Labor gezüchtete Nerven als Überbrückung einsetzt. Das implantierte Stück kann zwar keine Signale zu den Muskeln weiterleiten, würde aber das lebende Gewebe sein, das die körperfern gelegene Nervenscheide vor dem Abbau bewahrt und dem neu sprießenden Stumpf Zeit zum Wachsen verschafft.
Wie aber züchtet man im Labor in kurzer Zeit lange Nervenersatzstücke? Smith hat herausgefunden, dass leichte Zugkräfte, die allmählich gesteigert werden, die Lösung sind. Sein Team hat es geschafft, Nerven durch künstliches Strecken fast hundertmal schneller wachsen zu lassen, als nach der gängigen Lehrmeinung möglich war. In einer Pilotstudie entfernte Smith 40 Ratten aus dem Ischiasnerv eines Beins jeweils ein Stück von einem Zentimeter Länge. Dieser Nerv entspringt dem Rückenmark und verläuft durch das Gesäß und an der Hinterseite des Beins bis zu den Fußmuskeln. Für den Brückennerv entnahm er dem Rückenmark von Rattenembryos sensorische Nervenzellen, die normalerweise Sinneseindrücke aus der Körperperipherie zum Gehirn weiterleiten. Sie kamen in eine Schuhkarton-große Kammer mit einer Art Streckbank aus zwei durchsichtigen Folienstücken. Auf die Grenze der beiden pipettierten die Forscher etwas Kollagengel als Wachstumsstütze und platzierten beidseits der Trennlinie zwei Nervenzellen-Portionen in einem Abstand von zwei Haaresbreiten. Zu guter Letzt setzten sie die Streckapparatur in einen Inkubator, der auf 37 Grad Celsius erwärmt wurde, um die Körpertemperatur einer Ratte zu simulieren.
Nachdem ein Protein-Cocktail die Nervenzellen dazu angeregt hatte, jeweils einen Fortsatz sprießen zu lassen, wuchsen diese im Verlauf der nächsten Tage auf die gegenüber platzierten Nervenzellen zu und knüpften Verbindungen mit ihnen. Sobald das geschehen war, zog ein computergesteuerter Motor die Folien voneinander weg. Welche Streckgeschwindigkeit die Fasern noch aushielten, hatten die Forscher zuvor schlicht nach dem Prinzip "Versuch und Irrtum" herausfinden müssen. Sie erlebten eine Überraschung. Am fünften Tag konnten sie die Nervenfortsätze bereits mit dem Hundertfachen ihrer natürlichen Wachstumsgeschwindigkeit triezen. Nach der Tortur wurden die ein Zentimeter langen Nervenfasern in einem Kunststoffhalm platziert. Diese aus einem körperverträglichen Polymer gefertigte Röhre sollte nach dem Implantieren als künstliche Nervenscheide fungieren und dem aussprossenden Ischiasnerv als Führung dienen.
Das Ergebnis des Pilottests weckt große Hoffnungen: Smith zufolge gewannen fast alle der 40 Versuchsratten innerhalb von vier Monaten die Beweglichkeit ihres Beins wieder – ein starker Hinweis darauf, dass die gefährdete Nervenscheide lange genug am Leben erhalten worden war, bis der neu gewachsene Nerv durch die Röhre zu ihr hindurchgekommen war und neuen Kontakt zu den Beinmuskeln geknüpft hatte. Tatsächlich fanden sich nach dem Tod der Tiere entlang des Überbrückungsnervs neu gewachsene Nervenfasern.
Smiths Team will nun noch größere Verletzungen überbrücken und hat sogar bereits zehn Zentimeter lange Ratten-Nervenimplantate wachsen lassen. Darüber hinaus hat Smith gezeigt, dass die Streckmethode auch bei menschlichen Nerven gut funktioniert. In den kommenden zwei Jahren, so hofft er, sollen die ersten klinischen Versuche mit Patienten starten. (bsc)