"Avowed" angespielt: Abenteuer in der "Pillars of Eternity"-Welt

Die Insel-Spielwelt des Rollenspiels "Avowed" weckt unwiderstehlichen Erkundungsdrang. Zudem ist Obsidian ein bemerkenswert robustes Kampfsystem gelungen.

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Screenshot aus "Avowed"

(Bild: Obsidian)

Lesezeit: 6 Min.
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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

"Avowed" beginnt, wie gute Rollenspiele eben beginnen: schiffbrüchig an irgendeinem Strand. Als kaiserlicher Gesandter soll man eine Inselkolonie begutachten, auf der eine mysteriöse Krankheit umhergeht. Ärgerlicherweise wird die Schifffahrt von Kanonenfeuer ruiniert – weil die in einer Kaserne stationierten Soldaten der erwähnten Malaise anheimgefallen und durchgedreht sind.

Das klingt erstmal ziemlich bedrückend, wird aber nicht besonders ernst erzählt. Emotionalen Tiefgang spart sich "Avowed" zumindest in seinen Anfangsstunden. Entwickler Obsidian bemüht sich stattdessen um eine einladende Fantasy-Spielwelt, die ihre Geschichte beherzt und gelegentlich augenzwinkernd erzählt.

Dabei profitiert "Avowed" von der bereits etablierten Geschichte der beiden "Pillars of Eternity"-Spiele, in deren Universum der neue Ableger spielt. Es ist etwas amüsant, dass "Pillars of Eternity" 1 und 2 wohl auch wegen ihres klassischen Vogelperspektiven-Rollenspieansatzes vom Mainstream geschmäht wurden – und Obsidian die "Pillars"-Reihe ausgerechnet jetzt auf ein First-Person-Rollenspiel umsattelt, wo Baldur’s Gate 3 das CRPG-Genre wieder salonfähig gemacht hat. Erfahrung mit der First-Person-Perspektive hat Obsidian zuletzt mit "Outer Worlds" gesammelt.

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So ist es eine wahre Freude, die Welt Eora und genauer gesagt die Insel-Spielwelt der "Living Lands" in Ego-Perspektive zu erkunden. Kenntnis über die etablierte Hintergrundgeschichte aus den Vorgängern erleichtert den Einstieg in das Universum aus Obsidians eigener Feder, das wie schon "Pillars of Eternity Deadfire" Insel-Flair mit Azteken-Optik vor kolonialistischem Hintergrund verbindet. Wer sich schon auskennt, fühlt sich trotz Perspektivwechsel unmittelbar heimisch. Man muss die Vorgänger aber nicht unbedingt gespielt haben, um sich zurechtzufinden. "Avowed" steht auf eigenen Füßen.

Besonders gelungen ist eine Art Dialog-Glossar. Es lässt sich während der Gespräche mit NPCs jederzeit aufrufen und erklärt Namen und Begriffe, die während der Unterhaltung erwähnt wurden. So wissen auch Neulinge, worum es gerade geht. Schade nur, dass man außerhalb der Dialoge nicht auf das Glossar zugreifen kann.

Leider etwas hüftsteif: Die Dialog-Präsentation kann nicht mit den Genre-Größen mithalten.

(Bild: heise online)

Die Gespräche selbst sind gut geschrieben, meist nachvollziehbar und kurzweilig. Leider fehlt es ihnen an Leben: Im Vergleich zu den dynamischen Dialogszenen aus Spielen wie "Baldur’s Gate 3" sieht "Avowed" einfach nur lahm aus. Der Protagonist und seine Gesprächspartner stehen schnurstracks in der Landschaft und starren mit versteinerten Gesichtern unnachgiebig ins Nirvana, während ihre Arme unmotivierte Alibi-Gestiken abarbeiten. Das Ergebnis ist trotz professioneller Vertonung (ausschließlich auf Englisch!) ungelenk und altbacken. Schade.

Besser umgesetzt ist das Kampfsystem, das mit wuchtigen Schlägen und flotten Ausweichmanövern überrascht. In Kombination mit einem erstaunlich kompetenten Parkour-System weckt "Avowed" in seinen besten Momenten Erinnerungen an das großartige "Dark Messiah of Might and Magic" – nur der Kick-Button fehlt.

Viele Fans hatten nach dem Release der ersten Trailer befürchtet, die Kämpfe in "Avowed" könnten etwas blutleer ausfallen. Obsidian hat das zum Anlass genommen, nochmal nachzubessern – zum Glück. Die Gefechte mit Echsenwesen, Grabräubern und Schwarzbären laufen ausgesprochen schwungvoll ab: Nahkampfwaffen haben schnelle und schwere Attacken, die zuerst aufgeladen werden müssen, während man mit den präzisen Ausweichmanövern feindlichen Projektilen aus dem Weg geht und den sinnvollen Einsatz der zahlreichen Spezialfähigkeiten plottet.

Das Kampfsystem überzeugt mit kräftigem Treffer-Feedback und robuster Mechanik.

(Bild: heise online)

Wer auf den höheren Schwierigkeitsgraden spielt, muss parallel noch mit Mana- und Lebenskraftfläschchen jonglieren und die Spezialfähigkeiten der Begleiter dirigieren. Das Wort Action in Action-RPG lässt sich bei "Avowed" nicht wegdiskutieren.

Besonders Spaß machen die Kämpfe, weil Fähigkeiten auch mit der Umgebung interagieren: Brüchige Wände können mit verschiedenen Skills zum Einsturz gebracht, Holzbretter zerschlagen werden. Mit Eiszaubern kann man sogar Schollen auf Wasser erzeugen, um trocken auf die andere Seite eines Teichs zu gelangen. Man darf aber auch einfach schwimmen.

Überhaupt lädt die Spielwelt an jeder Ecke zum Erkunden ein. "Avowed" besteht aus einer weitgehend offenen Karte, die zwischendurch von linearen Abschnitten unterbrochen wird. Es lohnt sich immer, in jede Ecke zu gucken: Wenn man aufmerksam ist, kann man eigentlich immer zu ein wenig verstecktem Loot kriechen, klettern oder hüpfen. Kleine versteckte Geschichten und Abenteuer gibt es ebenfalls zu finden.

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Etwas bedauerlich ist dabei, dass Obsidian seine Spielwelt in der Standardkonfiguration etwas zu leicht durchschaubar gemacht hat: Loot leuchtet hell, Ausrufezeichen über Köpfen weisen auf Quests hin, Questmarker zeigen den genauen Weg zum Ziel und eine Minimap offenbart Gegenstände in der unmittelbaren Umgebung.

Die Insel-Spielwelt von "Avowed" versprüht einen wundervollen Charme, der zum Erkunden einlädt.

(Bild: heise online)

All diese etwas inflationär eingesetzten Hilfsmittel darf man dankenswerterweise in den Optionen ausschalten, wenn man sich etwas direkter mit der Spielwelt auseinandersetzen möchte. "Avowed" unterstützt das komplett: Questgeber verlassen sich nicht einfach auf den Questmarker, sondern geben zusätzlich eine Wegbeschreibung, der man folgen kann.

Die frühen Spielstunden von "Avowed" unterhalten mit einem flotten Mix aus Action, Erkundung und Neugier. Für den ganz großen Wurf reicht es nicht, weil gerade die Dialogsequenzen handwerkliche Unzulänglichkeiten zeigen und der erzählerische Anspruch im Vergleich zu den Vorzeigespielen des Rollenspiel-Genres zumindest zu Beginn etwas zurückhaltend ausfällt.

Obsidian versteht es trotzdem, Rollenspiel-Fans vor den Bildschirm zu fesseln. Das liegt nicht nur am erstklassigen Kampfsystem, sondern auch am einzigartigen Schauplatz. Die Inselwelt der Living Lands entfacht eine unwiderstehliche Abenteuerlust, die man über das hervorragende Parkour-System genüsslich ausleben darf. Dafür kann man über den einen oder anderen oberflächlichen Mangel auch mal hinwegsehen.

(dahe)