Zahlen, bitte! Kürzester Erdumlauf in 84 Minuten der Schuler-Periode
Die Schuler-Periode war wichtig für die Erfindung des Kreiselkompasses: An der Entwicklung des Schiffs-Navigationsinstruments wirkte sogar Albert Einstein mit.
Die 84-Minuten-Periode spielt bei vielen geodätischen Berechnungen eine Rolle, etwa als kürzestmögliche Umlaufzeit eines Satelliten um die Erde. Gäbe es einen geraden Tunnel etwa zwischen New York und London, in dem ein Fahrzeug sich reibungsfrei und ohne Motor unter Einfluss der Schwere frei bewegen könnte, wäre es in 42 Minuten in New York und in 84 Minuten wieder zurück in London. Die wissenschaftlich als Schuler-Periode bekannte Zahl spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Navigationsgeräten wie dem Kreiselkompass. Ihre Entwicklung verdankt sie dem verwegenen Plan, unter dem Nordpol durchzutauchen.
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Vor 125 Jahren beschäftigte sich der deutsche Kunsthistoriker und selbst ernannte Polarforscher Hermann Anschütz-Kaempfe bei seiner vorerst letzten Polarfahrt mit der Möglichkeit, mit einem Tauchboot den Nordpol zu erreichen. Er war vom österreichischen Polarforscher Julius Payer mit dem "Polarfieber" infiziert worden. Payer hatte an einigen Expeditionen teilgenommen und die Qualen der Expeditionen zum Nord- und Südpol in großen Bildern gemalt und verherrlicht. Anschütz-Kaempfe brach 1897 zum ersten Mal nach Spitzbergen auf. In diesem Jahr war der Versuch des schwedischen Polarforschers Salomon August Andrée gescheitert, den Pol einfach auf dem Luftweg mit einem Wasserstoffballon zu erreichen. Anschütz-Kaempfe stellte sich vor (PDF-Datei, Seite 13), dass ein Tauchboot im Eismeer im offenen Wasser auftaucht und jemand mit einer 20 Meter hohen Leiter die nächste Wasserstelle in fünf oder sechs Seemeilen Entfernung ausmacht und mit dem Kompass bestimmt.
"Nach dem Compass wird nun das Gyroskop, ein Instrument, das mit großer Genauigkeit jede seitliche Abweichung des Schiffes von der gegebenen Richtung anzeigt, gerichtet. Die Leiter wird eingezogen, der Schacht verschlossen, die Tauchung kann beginnen..." Mit diesem einfachen Stop-and-Go-Prinzip wollte Hermann Anschütz-Kaempfe sich dem Nordpol nähern und ihn überfahren. Das Gyroskop sollte als Richtungszeiger unter Wasser die Richtung bestimmen, wenn der Magnetkompass keine Ergebnisse liefert.
Nordpol-Fahrtgesellschafft gegründet
Zur Finanzierung seines Planes gründete er zusammen mit dem Münchener Fabrikanten Hermann Scholl die "Gesellschaft zur drahtlos-unterseeischen Nordpolfahrt." Zu diesem Zeitpunkt war das ansehnliche Vermögen, das Hermann Anschütz als Adoptivsohn des Ehepaars Kaempfe erhalten hatte, bereits stark geschrumpft. Unverdrossen begann der begabte Tüftler 1903 mit der Konstruktion von Gyroskopen, die er auf Modellschiffen im Müllerschen Volksbad zu München und dann auf Vergnügungsdampfern im Starnberger See erprobte. Ziel aber waren richtige Tauchfahrten in Nord- und Ostsee mit dem U-Boot "Forelle" der Kieler Germaniawerft, die zum Krupp-Konzern gehörte. Mit diesem schloss der Polarforscher einen Vertrag zur Unterwassersteuerung von Torpedos.
(Bild: Manfredgoellner, CC BY-SA 4.0)
Seinem Ziel näher kam Anschütz, als sein Gyroskop zunächst auf dem Hafendampfer "Schleswig" in der Kieler Förde und später auf dem Kleinen Kreuzer SMS "Undine" während der Kalibrierung der Geschütze eingesetzt wurde. Anschütz-Kaempfe erlebte, dass sein Gyroskop nicht vom Geschützfeuer beeinflusst wurde, aber Probleme mit dem Schlingern und Stampfen hatte. Das Reichsmarineamt, das Anschütz-Kaempfe bei seinen Experimenten unterstützte, empfahl dem Erfinder, seine Nordpolfahrt zu vergessen und seine Erfindung zu verbessern und zu patentieren.
Dies geschah denn auch mit der Patentanmeldung eines "Kreiselapparates" als Deutsches Reichspatent (DRP) 182 855 am 27. März 1904. Es war nicht das erste Patent dieser Art, aber das erste, das für den Einsatz eines Kreisels auf Schiffen angemeldet wurde. Die Niederländer Marinus van den Bos und Barend Janse hatten bereits 1885 ein Patent für einen "Rotationskompass" angemeldet, das Siemens aufkaufte, aber bald die Produktion mangels Seetauglichkeit einstellen musste.
Einbeziehung des Vetters bringt den Kreiselkompass-Durchbruch
Nach vielen weiteren Versuchen wurde im September 1905 die Anschütz & Co KG ins Kieler Handelsregister eingetragen. Noch wichtiger war freilich, dass Anschütz-Kaempfe seinen Vetter Max Schuler zum Eintritt in die Firma bewegen konnte. Der Diplomingenieur und Physiker entwickelte hier die mathematischen Grundlagen für das Schwingungsverhalten eines Kreisels, mit dessen Störungen sich Anschütz-Kaempfe in praktischen Versuchen beschäftigte. Schuler rechnete um 1915 diese Periode mit einem hypothetischen Pendel von der Länge 6371 km entsprechend dem Erdradius und einem Gravitationsfeld von 9,81 m/s² aus. Ein Pendel, das bis zum Erdmittelpunkt reicht, würde mit 84,4 Minuten schwingen.
Dem Tüftler Anschütz-Kaempfe, der eigentlich als Kunsthistoriker promoviert hatte, war es nicht möglich, über die Funktionsweise seiner "verbockten Maschine" in der Sprache der Physik zu berichten. Heute wird die von ihm gefundene geophysikalische Konstante als Schuler-Periode mit 84,4 Minuten benannt (PDF-Datei).
(Bild: Stahlkocher, CC BY-SA 3.0)
Erster tauglicher Kreiselkompass in der Marine im Einsatz
1908 brachte die Firma Anschütz jedenfalls den ersten tauglichen Kreiselkompass auf den Markt, der auf Befehl von Admiral Tirpitz sofort auf der SMS "Deutschland" getestet wurde. Anschütz-Kaempfe tüftelte weiter und verband 1909 den Kreiselkompass mit dem Koppeltisch der Fahrtmessanlage zum ersten automatischen Fahrtenplotter. Die Weiterentwicklung des Kompasses wurde mit der Patentanmeldung vom 22. Juni 1911 für den Dreikreiselkompass DRP 211 637 beschleunigt. Er wurde auf dem Schlachtkreuzer SMS Moltke installiert. In der Handelsschifffahrt kam der Kompass auf der "Imperator" zum Einsatz, bis 1914 das größte Schiff der Welt.
Im Dezember 1914 entscheidet sich die Firma Anschütz, gegen ein Kompass-Patent des US-Amerikaners Elmer Ambrose Sperry vorzugehen. Dieser hatte 1909 die Anschütz-Werke in Kiel besucht und danach einen eigenen Kreiselkompass vorgestellt. Als unparteiischen Gutachter beauftragte das Reichspatentamt den gerade nach Berlin eingewanderten Albert Einstein von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Einstein hatte vor der Veröffentlichung seiner speziellen Relativitätstheorie als technischer Experte 3. Klasse beim Schweizer Patentamt in Bern gearbeitet und kannte sich daher mit Streitereien dieser Art aus. Er begutachtete beide Kompasse im Jahr 1915.
(Bild: U.S. Navy)
Anschütz gewann das Verfahren und damit den europäischen Markt, während Sperry den US-Markt dominierte. Anschütz-Kaempfe und Einstein befreundeten sich, für Einstein lag immer eine Segeljolle bereit und eine Gastwohnung war als "Diogenes-Tonne" in Kiel für den Rückzug aus Berlin eingerichtet. Bei Streitigkeiten um den von der Firma Anschütz 1916 patentierten und von Max Schuler entwickelten künstlichen Horizont für den Blindflug im Flugverkehr vertrat Einstein nunmehr Anschütz als Gutachter. 1918 bat Einstein schließlich um seine Entlassung als Gutachter, um zusammen mit Anschütz-Kaempfe an einer neuen Kompass-Generation zu arbeiten, denn Anschütz-Kaempfe störte es, dass der offen daliegende Dreikreiselkompass von außen beeinflussbar war.
Nach vielen Diskussionen und Briefwechseln mit Einstein entwickelte er die Vorstellung eines Zweikreisels, der in einer Kugel gelagert und luftdicht verschlossen ist, damit sich der Kreisel ohne Luftreibungswiderstand drehen kann. Anschütz-Kaempfe experimentierte zunächst mit Quecksilber, stieg aber dann auf Empfehlung von Einstein auf Elektrolyt um. Auch die Stromzuführung mit Drehstrom wurde diskutiert, dank der die beiden Kreisel im Kugelkompass mit 19800 U/Min rotierten. Die wichtigste Idee von Einstein war der Einsatz eines Magnetrings als "Blasspule", damit die Kugel im Innern des Systems immer zentriert bleibt.
(Bild: U.S. Navy photo by Yeoman 1st Class J. Thompson/Released)
Der gemeinsam entwickelte Kugelkompass wurde als "Kreiselapparat für Meßzwecke" unter der Nr. 394 667 im Jahre 1922 vom Reichspatentamt patentiert. Einstein erhielt 1 % vom Verkaufspreis jedes Apparates; 3% von der Lizenzgebühr bei der Vergabe von Auslandspatenten. Anschütz überwies Einstein bis zum Jahre 1938 die ihm zustehenden Zahlungen, als dieser längst in die USA ausgewandert und von den Nationalsozialisten strafausgebürgert worden war. An dem Prinzip hat sich bis heute wenig geändert.
Die Tauchfahrt unter dem Nordpol wurde erst 1958 von der USA mit dem atomgetriebenen U-Boot Nautilus unternommen und hatte nichts mit den Rekordversuchen der frühen Polarforscher zu tun, sondern diente der nuklearen Abschreckung. Sie sollte der Sowjetunion zeigen, dass U-Boote der USA jederzeit vor der Küste auftauchen können.
(mawi)