Rezension: 50 Jahre "Autobahn" von Kraftwerk - neu aufgelegt in Dolby Atmos
Mit "Autobahn" läuteten Kraftwerk vor 50 Jahren das Zeitalter der elektronischen Popmusik ein. Zum Jubiläum haben wir uns den neuen Atmos-Mix genauer angehört.
(Bild: Kraftwerk)
1973 hatte die Ölpreiskrise der Weltwirtschaft den ersten großen Dämpfer nach dem Zweiten Weltkrieg verpasst. Autofreie Sonntage und Tempolimits bremsten die in Deutschland zur Schau gestellte Freiheit. Kraftwerk griffen ein Jahr später in ihrem vierten Album die Propaganda aus der Zeit des Wirtschaftswunders auf. Sie vertonten sie in einer über 22-minütigen Suite, die den Hörer auf eine Reise in eine vermeintlich sonnige Zukunft mitnahm. Das Cover zierte damals ein Gemälde von Emil Schult, das einen Mercedes-Benz und einen VW-Käfer auf einer ansonsten freien Autobahn zeigte, die sich vor dem Hintergrund eines Sonnenuntergangs über grüne Hügel schlängelte. Kitsch as Kitsch can.
Wenn Kraftwerk zu einer naiven Kinderliedmelodie „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ anstimmen und damit die Werbeslogans der Wirtschaftswunderzeit nicht nur kopieren, sondern in schier endloser Wiederholung überhöhen, erzeugen sie Reibung mit der Realität. Denn das Album erschien in einer Zeit, in der die Studentenbewegung gegen den „Muff von 1000 Jahren“ rebellierte und auf den Autobahnen eben nicht mehr „Freie Fahrt für freie Bürger“ galt. Diese Dissonanz warf unweigerlich Fragen und Diskussionen auf: Ist die Musik von Kraftwerk rein affirmativ oder stellt sie diese Affirmation nur übertrieben zur Schau und bricht sie damit? Die Band selbst hat sich bis zum heutigen Tag aus diesen Diskussionen herausgehalten. Sich zu erklären, würde nur die Debatten ersticken und ihr bewusst ambivalent angelegtes Werk entwerten.
Ambivalenz durch Affirmation
Zu hören ist diese Reibung nun auch im neuen Dolby-Atmos-Mix der Neuauflage zum 50. Geburtstag. Die Blu-ray Disc (erschienen bei Parlaphone für 25 Euro) ist mit ihrem 7.1-TrueHD-Kern der datenreduzierten Streaming-Version bei Apple Music weit überlegen. Grundlage sind die digitalisierten Originalspuren, die Produzent Conny Plank damals mit seinem mobilen 16-Spur-Studio aufgenommen hatte. Auf der einen Seite stehen die voluminösen Klänge der damals sündhaft teuren Synthesizer Minimoog, EMS AKS und ARP Odyssey, die den Hörer von allen Seiten einhüllen.
Dagegen dringt der etwas holprige Beat, der damals noch live mit selbstgebastelten Schlagzeug-Pads eingespielt wurde, nur mit seiner rauschenden elektrischen Snare durch. Die Bassdrum – später das dominierende Instrument im Techno – geht fast völlig unter. Doch der Beat in seiner Unvollkommenheit und mit seinen sanften Tempowechseln haucht dem Stück zusammen mit den eingestreuten Flöten- und Gitarrenklängen eine Lebendigkeit ein, die etwa der gekürzten und rhythmisch begradigten Neuinterpretation im 3-D-Katalog von 2017 fehlte.
Ebenso im Hintergrund bleibt der unbeholfene Gesang, wenn er mal nicht durch den selbstgebauten Vocoder verfremdet wird. Dann erinnert er an ein Karaoke-Duo auf der Rückbank eines VW-Käfers, das man bei 120 km/h auch dort nicht ganz verstehen würde. Es wäre ein Leichtes gewesen, die stimmlichen Unzulänglichkeiten und Intonationsschwierigkeiten mit modernen Audio-Plug-ins zu kaschieren. Aber das wollte man offensichtlich nicht. Die Passage mit dem Radioempfang ist im Atmos-Mix sogar deutlich schlechter zu verstehen als in der alten Stereomischung. Dafür lassen nun die vorbeirauschende Autos imitierenden Synth-Geräusche inklusive Dopplereffekt aufhorchen, die das volle Rundumfeld einer Atmos-Anlage nutzen.
Die dunkle Seite
Widmete sich die erste Seite der Vinyl-Platte einer flotten, sonnigen Tagestour, schaltet die zweite (Nacht-)Seite mit zwei Stücken über den damaligen Kometen Kohoutek einige Gänge zurück. Vor allem die beiden abschließenden Stücke „Mitternacht“ und „Morgenspaziergang“, die in der Tradition der Musique Concrète stehen, leben mit ihren nun aus allen Richtungen kommenden Geräuschen und imitierten Vogelstimmen im Atmos-Mix auf. Sie sind die neuen Highlights des Albums und wurden von Fritz Hilpert so authentisch rekonstruiert, dass jetzt sogar das 50-Hertz-Brummen der analogen Synthesizer zu Beginn des Morgenspaziergangs wieder zu hören ist.
Autobahn ist heute aktueller denn je. In einer Zeit, in der das Straßennetz als Teil der militärischen Infrastruktur für künftig wieder rollende Panzer mit milliardenschweren Schulden aufgerüstet werden soll, sind Gegenstimmen oder dissonante Zwischentöne ebenso wenig zu hören wie auf dem 50 Jahre alten Album. Diese Leerstelle müssen damals wie heute die kritischen Zuhörer füllen. Die Platte macht ihnen nur deutlich, dass da etwas fehlt. Und mit der wieder aufflammenden Diskussion um Atomkraftwerke wirft das Nachfolge-Album „Radio-Aktivität“ seine Schatten bereits voraus.
(hag)