Wie Online-Rezepte auf Basis von Fragebögen Medikamentenmissbrauch begünstigen
Durch Ausfüllen eines einfachen Fragebogens können verschreibungspflichtige und süchtig machende Medikamente online bestellt werden. Dies birgt Risiken.
(Bild: heise online)
Inzwischen gibt es zahlreiche telemedizinische Plattformen, die unter anderem die Verschreibung von Medikamenten aus der Ferne ermöglichen. Verschiedene Gesetze wie das zur Aufhebung des Fernbehandlungsverbots haben den Weg geebnet, damit Patienten einen einfachen Zugang zu medizinischen Dienstleistungen erhalten. Insbesondere für Menschen in ländlichen Gebieten oder mit eingeschränkter Mobilität ist das hilfreich.
Viele Plattformen werben inzwischen aber teils aggressiv mit dem schnellen und unkomplizierten Zugang zu verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ohne persönlichen Arztkontakt. Aus der Werbung dürfte vielen DocMorris und Shopapotheke bekannt sein. Speziell DocMorris führt seit 2012 verschiedene Werbeaktionen für den Bezug verschreibungspflichtiger Arzneimittel (auch Rx-Arzneimittel, Rx) durch. Erst kürzlich hatte die Apothekerkammer Nordrhein für ein Ende von DocMorris-Rabattaktionen bei Gutscheinen in Zusammenhang mit E-Rezepten erwirken können.
Einfacher Zugang zu potenziell gefährlichen Arzneimitteln
Der Zugang zu Verschreibungen von nicht ganz unbedenklichen Medikamenten erfolgt bei vielen Angeboten sogar lediglich nach Ausfüllen eines Fragebogens. Dabei hat der Kunde die Wahl, sich ein Rezept ausstellen zu lassen oder es direkt einzulösen. Erhält man ein Rezept, kann das Medikament in der Apotheke abgeholt werden. Der Apotheker Stefan Schwenzer sagt dazu: "Tatsächlich ist es so, dass wir bestimmte Arten von Arzneimitteln nur noch nach intensiver Prüfung beliefern. Das betrifft etwa Medikamente mit Abhängigkeitspotential wie Benzodiazepine." Er versucht im Zweifel, mit dem verordnenden Online-Arzt Kontakt aufzunehmen, was sich jedoch oft schwierig gestaltet. Wählen Patienten jedoch den Online-Versand von Medikamenten, fällt nicht nur eine Kontrollinstanz weg. Schwierig wird es gerade bei Medikamenten oder ärztlicher Leistung, die aus dem Ausland bezogen wurde. Dann sind Rechtssicherheit und Haftungsdurchsetzung oft problematisch und langwierig.
Das Apothekengesetz (§ 11 ApoG) legt fest, dass Apotheken keine Absprachen treffen dürfen, die auf die Zuführung von Patienten oder die Zuweisung von Verschreibungen abzielen. Gleichzeitig schreibt das Bürgerliche Gesetzbuch (§ 630a BGB) vor, dass ärztliche Behandlungen, einschließlich der Verschreibung von Medikamenten, nach anerkannten fachlichen Standards erfolgen müssen. Die ärztliche Sorgfaltspflicht ist ein zentrales Element, um sicherzustellen, dass die Gesundheit der Patienten im Vordergrund steht.
Problematisch ist es, wenn zwischen Telemedizinplattform und Versandapotheke keine Trennung erfolgt – teils haben die mit den Plattformen verwobenen Apotheken zudem keinen Sitz in Deutschland. Unklar ist, ob sich alle Plattformen an das Zuweisungsverbot halten, wonach die Rezepte nicht direkt an eine Apotheke übermittelt werden dürfen. Oft werden nach einer telemedizinischen Konsultation die Rezepte an ausgewählte Versandapotheken übermittelt. Gibt es keine Möglichkeit, eine Apotheke auszuwählen, was bei manchen Plattformen der Fall ist, könnte das zu Fehlanreizen führen und das Zuweisungsverbot wird nicht eingehalten.
Verknüpfung von Telemedizin und Online-Apotheke "kritisch"
Schwenzer schätzt "die zunehmende Verknüpfung von solchen 'Verordnungsplattformen' mit dem direkten Versand der Arzneimittel durch einen meist im Ausland angesiedelten Versender" als "besonders kritisch" ein, wobei "systematisch die in Deutschland geltende Verschreibungspflicht ausgehebelt" werde und auch "das geltende Verbot einer direkten Zusammenarbeit von Ärzten und Apothekern im Hinblick auf die Zuweisung von Rezepten oder Patienten geschickt umgangen wird. Besorgniserregend ist, dass solches Vorgehen inzwischen auch bei der Verordnung von Medizinalcannabis zu beobachten ist."
Auch heise online ist es gelungen, durch Ausfüllen eines Fragebogens bei mehreren Testkäufen von drei verschiedenen Plattformen verschreibungspflichtige Potenzmittel und Tramadol zu erhalten, ein suchttreibendes Betäubungsmittel. Die Medikamente wurden dabei von Online-Apotheken versandt, die nicht im Versandhandels-Register für Online-Apotheken des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte gelistet sind. Hauptstandorte sind in den Niederlanden, nahe der deutschen Grenze angesiedelt. Die Medikamente wurden unter Nutzung von Briefkasten-Adressen in Deutschland versendet. Die verschreibenden oder behandelnden Ärzte kamen aus Irland oder München. Bei zwei Plattformen erfolgte der Versand des Medikaments direkt nach der Bestellung, ohne dass zuvor das Rezept eingesehen werden konnte.
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In einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage ging Anfang des Jahres nicht hervor, inwieweit sich "internationale Plattformen wie doktorabc.com, die ihren Sitz im Nicht-EU-Ausland haben, aber ärztliche Behandlungen sowie den Arzneimittelversand von zugewiesenen Versandapotheken von innerhalb der EU vermitteln" Handlungsbedarf in der Gesetzgebung sieht, wie zuerst die Deutsche Apotheker Zeitung berichtet hatte. "Einen weitergehenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht das Bundesministerium für Gesundheit derzeit nicht", hieß es seitens der Bundesregierung noch im Februar.
Erhebliche Risiken durch unbeschränkten Zugang
"Der Gesetzgeber darf nicht mehr länger die Augen davor verschließen, dass Plattformen mit all-inklusiv-Angeboten bestehend aus der Vermittlung von elektronischen Verschreibungen und den entsprechenden Arzneimitteln faktisch das bewährte System der Arzneimittelversorgung außer Kraft setzen und damit erhebliche Risiken für die Verbraucher durch den faktisch unbeschränkten Zugang zu verschreibungspflichtigen Arzneimitteln schaffen", erklärt dazu Morton Douglas, Jurist bei der Apothekenkammer Nordrhein (AKNR) gegenüber heise online.
Unterstützt mit spezialisierten Juristinnen setzt die AKNR sowohl auf rechtliche Schritte gegen Versandapotheken als auch auf die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Risiken digitaler Arzneimittelangebote. "Wir sehen das schon als Erfolg an, dass man heute dieses Gespräch führt," so AKNR-Geschäftsführerin Bettina Mecking, die zusammen mit der auf Gesundheitsrecht spezialisierten Juristin Dr. Anne Bongers-Gehlert im Podcast der Pharmazeutischen Zeitung über die Thematik sprach.
Von Potenzmitteln, Antibiotika zu Betäubungsmitteln
"Viele verschreibungspflichtige Arzneimittel wie zum Beispiel Antibiotika kann man einfach bestellen", so Mecking. Sie habe kürzlich bei einem Testkauf "einfach so" Zopiclon bestellen können, ohne sich zu identifizieren, der Fragebogen sei ebenfalls kurz gewesen. Begonnen habe das Ganze laut Bongers-Gehlert mit Potenzpillen bei DrEd, das inzwischen unter dem Namen Zava firmiert. "Mittlerweile mussten wir jedoch feststellen, dass sich das immer weiterentwickelt hat und jetzt […] auch ganz andere Indikationen betroffen sind, eben wie diese berühmten Abnehmspritzen oder eben auch Medizinal-Cannabis und so weiter".
Die AKNR geht seit Jahren konsequent gegen fragwürdige Online-Angebote im Apothekenumfeld vor und konnte kürzlich einen Erfolg gegen die Plattform Dr. Ansay erzielen. Darum darf die Plattform nicht mehr für telemedizinische Behandlungen werben, deren Ziel die Verschreibung von medizinischem Cannabis ist, aber auch verschiedene andere Dienste anbietet. Auch die Verantwortung von Plattformen wie Google rückt dabei zunehmend in den Fokus. Die AKNR prüft auch, ob Suchmaschinen haftbar gemacht werden können, wenn sie Werbung für fragwürdige Arzneimittelangebote unterstützen.
Erleichterter Zugang zu Medizinalcannabis
Nach Inkrafttreten des Cannabisgesetzes (CanG) wird Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel klassifiziert, sondern gilt als verschreibungspflichtiges Arzneimittel. Der Zugang zu Cannabis wird durch Plattformen wie Dr. Ansay erleichtert, da die Verschreibung lediglich nach einer Online-Arztkonsultation möglich ist. Im Februar berichtete das ZDF, dass der Import von medizinischem Cannabis im zweiten Quartal 2024 gegenüber dem ersten um fast 40 Prozent (auf 8,1 Tonnen) angestiegen ist. Laut dem Gesundheitsministerium in Baden-Württemberg deutet das darauf hin, dass "Medizinalcannabis möglicherweise auch für Konsumzwecke verordnet wird, wodurch die gesetzlichen Bestimmungen umgangen werden."
Behörden sollen Vorschriften überwachen
Die Überwachung der Einhaltung apothekenrechtlicher Vorschriften obliegt den zuständigen Landesbehörden. Die Ärztekammern sind für die Überwachung der berufsethischen Pflichten verantwortlich und unterstehen der Aufsicht der jeweiligen Landesbehörden. Diese Struktur soll sicherstellen, dass Verstöße identifiziert und sanktioniert werden können. Bei einem Verdacht darauf, "dass das Medizinalcannabis nicht aus therapeutischen Gründen verordnet wird, könnte versucht werden, […] die jeweilige Landesärztekammer zu informieren und eine berufsrechtliche Überprüfung anzuregen. Dies ist auch bei Ärztinnen und Ärzten [möglich], die aus dem europäischen Ausland heraus nach Deutschland hineinwirken" so das baden-württembergische Gesundheitsministerium. Apotheken sollten zudem bei erkennbarem Missbrauch selbigem entgegentreten und gegebenenfalls die Abgabe verweigern.
Cannabislegalisierung "schwerwiegender Fehler"
"Die Cannabislegalisierung ist und bleibt ein schwerwiegender Fehler der Bundesregierung", heißt es auf Anfrage von heise online seitens eines Sprecher des Bayerischen Gesundheitsministeriums. "Medienberichte legen den Verdacht nahe, dass Konsumentinnen und Konsumenten ihren Konsum von Cannabis zu Genusszwecken durch eine ärztliche (Online)-Verschreibung abdecken, um so ohne Anbauvereinigungen oder Selbstanbau an Cannabis in hoher pharmazeutischer Qualität zu gelangen. Es gibt darüber hinaus immer mehr (ärztliche) Anbieter, die über Plattformen anbieten, Medizinal-Cannabis online zu verordnen", so der Sprecher.
Teilweise werden Rezepte auch ohne vorherige Arzt-Patienten-Gespräche verschrieben. Das gefährde die Gesundheit der Menschen "massiv" und eigne sich auch nicht, um "den Schwarzmarkt und die Organisierte Kriminalität einzudämmen". Laut dem Bayerischen Gesundheitsministerium habe die Cannabislegalisierung "erheblich mehr Probleme geschaffen als gelöst. Wir werden deshalb in Bayern auch weiterhin so streng wie möglich die bestehenden Cannabis-Regelungen kontrollieren". Entsprechende Vorschläge zu "Änderungen der bundesrechtlichen Regelungen zum Medizinal-Cannabis" habe das Ministerium daher bereits vorgelegt.
BMG und BfArM beobachten Entwicklungen
Besonders kritisch zu betrachten ist der Zugang zu potenziell gefährlichen Arzneimitteln wie dem Schmerzmittel Tramadol. Neben der schmerzlindernden Wirkung birgt es auch Risiken wie Schwindel, Übelkeit, Verwirrtheit und vor allem ein Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzial. Das BMG überwacht in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Risiken und Erfahrungen mit Tramadol: "Das BMG beobachtet in engem Austausch mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Entwicklungen bzw. Erfahrungen in Bezug auf in Deutschland zugelassene Arzneimittel, wie Tramadol, sehr aufmerksam. Die Beobachtung beinhaltet auch den Blick auf Risiken von Wirkstoffen und Folgewirkungen, die mit missbräuchlicher Verwendung verbunden sind."
Laut der (Muster-)Berufsordnung für Ärzte ist eine ausschließliche Beratung über Kommunikationsmedien nur dann erlaubt, wenn sie ärztlich vertretbar ist und die erforderliche Sorgfalt gewahrt bleibt, wie das Bundesgesundheitsministerium (BMG) gegenüber heise online erklärt. Das BMG beobachte die Entwicklungen im Bereich der Telemedizin aufmerksam und erwäge gesetzliche Anpassungen, um die Einhaltung der fachlichen Standards und das Verbot der Absprache zu verschärfen und effektiv durchzusetzen.
"Nicht auf dem Weg in Opioidkrise"
Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist Deutschland bisher jedoch nicht auf dem Weg in eine Opioidkrise. Zwischen 2005 und 2020 sei die Verordnung von Opioid-Analgetika sogar um 19 Prozent gesunken. Das geht aus Abrechnungsdaten von vier gesetzlichen Krankenkassen mit insgesamt 25 Millionen Personen hervor. "Der Beginn der sogenannten 'Opioid-Krise' in den USA war hingegen von einem starken Anstieg der Verordnungen opioidhaltiger Analgetika geprägt. Insgesamt bestätigen und erweitern diese Ergebnisse die Erkenntnisse aus früheren Studien, dass es in Deutschland keine Hinweise auf eine sogenannte Opioid-Krise gibt", steht im aktuellen Bulletin zur Arzneimittelsicherheit vom BfArM und Paul-Ehrlich-Institut.
Fazit
Die zunehmende Verlagerung der Verschreibung von Arzneimitteln ins Internet birgt erhebliche Risiken. Die AKNR und andere Experten warnen eindringlich vor den Gefahren des unkontrollierten Zugangs zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, der durch Online-Verschreibungen und intransparente Strukturen gefördert wird. Eine mögliche Lösung, die von der AKNR gefordert wird, ist die Einführung eines Rx-Versandverbots, wodurch verschreibungspflichtige Medikamente nicht mehr versandt werden dürfen. Ferner müssen die bestehenden Gesetze und Vorschriften konsequenter überwacht und durchgesetzt werden, um Missbrauch zu verhindern und die Verantwortung der Plattformbetreiber zu stärken.
(mack)