Europäische Chipproduktion: "Versprechen, die völlig realitätsfern sind"
Das EU-Ziel, bis 2030 die eigene Chipproduktion zu vervierfachen, ist inzwischen so gut wie unmöglich zu erreichen. Zu dem Entschluss kommt der EU-Rechnungshof.
(Bild: c't)
Der EU Chips Act wird aller Voraussicht sein Ziel verfehlen. Das Maßnahmenpaket soll mit einer Fördersumme von 43 Milliarden Euro internationale Chipauftragsfertiger anlocken und heimische Hersteller zum Ausbau motivieren. Das erklärte Ziel dabei: Europäische Chips sollen bis 2030 rund 20 Prozent des weltweiten Umsatzes mit Halbleitern ausmachen. Weil die Kapazität auch in Asien und den USA steigt, wäre dafür in etwa eine Vervierfachung in Europa notwendig.
In einer Zwischenbilanz zweifelt der EU-Rechnungshof an, dass das klappt. Weil in Asien und den USA mehr neue Halbleiterwerke entstehen, könnte der europäische Anteil sogar weiter sinken. In seinem Bericht beruft sich der Rechnungshof auf Zahlen vom Sommer 2024, als Intel seine Magdeburger Werke noch nicht auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt hatte.
Damals prognostizierte der Marktforscher IDC (International Data Corporation) für das Jahr 2030 einen europäischen Umsatzanteil von 11,7 Prozent (EU-Bericht als PDF). Der Halbleiter-Weltverband Semiconductor Industry Association (SIA) und die Boston Consulting Group (BCG) schätzten den Anteil belichteter Silizium-Wafer zu dem Zeitpunkt für 2030 auf acht Prozent.
(Bild: Europäischer Rechnungshof)
Die Investitionen reichen nicht
Mit dem Wegfall der Intel-Werke sinkt der europäische Anteil noch mal weiter. Weil sich die größten Förderungen auf wenige Firmen konzentrieren, haben einzelne Verzögerungen oder Absagen erhebliche Auswirkungen auf das 20-Prozent-Ziel.
Die Intel-Werke waren das größte europäische Halbleiterprojekt: Eigentlich wollte der Hersteller für insgesamt mehr als 30 Milliarden Euro zwei Halbleiterwerke in Magdeburg bauen. Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme ist der Bau jedoch ausgesetzt. Ob er jemals beginnen wird, ist derzeit fraglich.
Dem Rechnungshof sind insgesamt 29 potenzielle beziehungsweise bereits laufende Investitionen in Produktionskapazitäten bekannt. Dazu zählen 13 Projekte "für neuartige Anlagen" – vier genehmigte und neun geplante, inklusive Intel. Diese 13 Projekte stellen den Löwenanteil der bekannten Investitionen dar: 26 Milliarden Euro sollen von staatlichen Beihilfen kommen und 60 Milliarden von den Herstellern selbst. Ohne die Intel-Werke fällt mehr als ein Drittel der Investitionen aus diesem Rahmen weg. Zu den größten verbliebenen Projekten zählt die European Semiconductor Manufacturing Company (ESMC) für 10 Milliarden Euro in Dresden, geleitet vom Weltmarktführer TSMC.
Laut SIA und BCG sieht es in Europa selbst mit den früher geplanten Intel-Investitionen mau aus. Die EU käme bis 2032 auf Investitionen von 147 Milliarden Euro, bei einem weltweiten Gesamtwert von umgerechnet 2,16 Billionen Euro.
Zur Einhaltung des 20-Prozent-Ziels müssten also viel mehr Gelder fließen. In einem Pressegespräch resümierte Annemie Turtelboom, Mitglied des EU-Rechnungshofs, dass die Versprechen des EU Chips Acts "völlig realitätsfremd sind".
(Bild: Europäischer Rechnungshof)
Verfahrenskritik
Es gibt auch formale Kritik. So könne die EU-Kommission die Investitionen kaum überwachen, weil das meiste Geld von den Mitgliedsstaaten kommt. Der EU Chips Act lockert die Förderregeln, sodass Länder viel größere Investitionen in einzelne Unternehmen pumpen dürfen. Die EU-Kommission selbst verteilt rund 4,5 Milliarden Euro, also nur rund 10 Prozent der Förderungen.
Die Kommission gibt Förderanträge frei, hat anschließend aber keine Überwachungsmechanismen. Zudem verfolgt sie weitere Mittel aus anderen EU-Töpfen nicht weiter, darunter der Europäische Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds), der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI) und Gelder aus dem Projekt Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF). Investitionen der Europäischen Investitionsbank (EIB) fallen ebenfalls nicht in den Rahmen der nachverfolgten EU-Förderungen.
Eine beiläufige Kritik: Auch der Rechnungshof bemängelt, dass europäische Hersteller primär Bedarf an älterer, aber günstiger Fertigungstechnik haben. Der EU Chips Act fördert aber primär moderne Technik.
(Bild: Eiropäischer Rechnungshof)
Positive Entwicklungen
Es gibt aber auch Positives zu berichten. Demnach befinden sich Projekte zur Förderung von Universitäten, Start-ups und kleinen bis mittelständischen Unternehmen auf einem guten Weg. Dazu gehört eine neue europäische Entwicklungsplattform zum Designen von Chips, inklusive Tools für die Electronic Design Automation (EDA). Sie soll die 30 Jahre alte Plattform Europractice ablösen. Dafür fließen 400 Millionen Euro. Pilotanlagen zur Produktion von Testchips sollen in den nächsten Jahren entstehen.
Videos by heise
Eine Komponente der neuen Gesetzgebung ist zudem die Möglichkeit, in Krisenzeiten vorrangig in Europa benötigte Chips in den Werken produzieren zu lassen. Mehrere Hersteller sollen bereits Gütesiegel für solche Notfälle beantragt haben. Laut Rechnungshof sollen ab 2028 Krisenaufträge durch die EU-Kommission möglich sein. Die Maßnahme ist eine explizite Reaktion auf den Chipmangel in Zeiten der Corona-Pandemie.
Der Rechnungshof empfiehlt zeitnah zwei Maßnahmen. Die EU-Kommission sollte einen Realitäts-Check durchführen und den EU Chips Act an den nötigen Stellen anpassen. Dazu zählt auch eine systematische Überwachung der Geldflüsse und Fortschritte.
Auf Basis dieses Checks sollte die EU-Kommission laut Rechnungshof einen weniger überhasteten Nachfolger des EU Chips Act ausarbeiten. Letzterer entstand 2021/2022 kurzfristig als Reaktion auf die Corona-Chipkrise, ohne alle Erkenntnisse vorheriger Förderpakete einfließen zu lassen.
(mma)