Elektronische Patientenakte: Technik allein reicht nicht

Die elektronische Patientenakte soll die Versorgung verbessern. Doch fĂĽr ihren Erfolg braucht es mehr als eine funktionierende Technik.

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Arzt an einem Tablet, im Hintergrund sind Symbole zu sehen, die Bestandteile einer modernen Gesundheitsversorgung darstellen, beispielsweise WLAN, ein Stethoskop, Spritzen, ein Smartphone etc.

(Bild: Somkid Thongdee/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Dr. Tugce Schmitt
Inhaltsverzeichnis

Deutschland steht vor einer grundlegenden Änderung in der Digital-Health-Politik: Die elektronische Patientenakte (ePA) wurde vom Opt-in- zum Opt-out-Modell. Dieses Konzept einer "ePA für alle" markiert einen deutlichen Kurswechsel, nachdem die ePA seit 2021 zwar verfügbar war, jedoch auf freiwilliger Basis kaum Anklang fand. Nur wenige Versicherte hatten eine ePA eingerichtet, geschweige denn sie aktiv genutzt. Die flächendeckende Einführung soll nun nicht nur die Versorgung verbessern, sondern auch die sekundäre Nutzung von Therapiedaten für die Forschung erleichtern.

Trotzdem bleibt die Frage: Wird die ePA im Praxisalltag tatsächlich genutzt werden? Hier treten die tiefer liegenden strukturellen Barrieren des deutschen Gesundheitssystems zutage. Denn dieses ist nach wie vor stark fragmentiert – ambulante Praxen, Krankenhäuser und andere Leistungserbringer arbeiten vielfach nebeneinander, mit getrennten IT-Systemen, Budgets und Zuständigkeiten.

Die ambulante und die stationäre Behandlung sind unterschiedlich finanziert, organisiert und gesteuert. Diese Fragmentierung führt nicht nur zu Ineffizienzen und Qualitätsverlusten in der Versorgung, sondern erschwert auch den umfassenden Informationsaustausch erheblich. Ohne strukturelle Integration bleiben auch die Daten isoliert – ein Teufelskreis, der integrierte Versorgung systematisch ausbremst. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Eine technische Infrastruktur wie die ePA ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Bisher mussten Ärztinnen und Ärzte keinen unmittelbaren Versorgungsnachteil fürchten, wenn sie auf umfassende Datenteilung verzichteten – denn das System belohnt sektorübergreifende Zusammenarbeit derzeit kaum.

Zwar sind Leistungserbringer nun gesetzlich verpflichtet, relevante Befund- und Behandlungsdokumente in die ePA einzustellen, sofern kein Widerspruch vorliegt. Doch Regelungen auf dem Papier garantieren noch keine reibungslose Umsetzung. Viele Ärztinnen und Ärzte bemängeln bereits heute den zusätzlichen Aufwand und das ungünstige Kosten-Nutzen-Verhältnis der Digitalisierung. Wenn der konkrete Mehrwert der ePA für die Einzelpraxis unklar bleibt, droht sie im Alltag zur lästigen Pflichtübung zu verkommen.

Ein oft übersehener Aspekt ist zudem, dass die ePA inhaltlich lediglich eine Sekundärakte darstellt. Sie ersetzt keineswegs die primären Patientenakten in Praxen oder Kliniken, sondern enthält Kopien der dort dokumentierten Informationen. Diese Konstruktion bedeutet aber auch: Ohne aktive und konsequente Befüllung durch alle Beteiligten bleibt die ePA lückenhaft. Ärztinnen und Ärzte können sich nicht darauf verlassen, in der ePA einen vollständigen Überblick über den Gesundheitsstatus ihrer Patientinnen und Patienten zu erhalten. Solange die Primärsysteme im Mittelpunkt stehen und die ePA nur als paralleles Zusatzangebot wahrgenommen wird, besteht die Gefahr, dass sie in der Versorgungspraxis zweitrangig bleibt.

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Damit die ePA ihr Potenzial entfalten kann, braucht es tiefgreifendere Reformen in der Finanzierung und Steuerung der Versorgung. Die Anreize müssen so gesetzt werden, dass sektorübergreifende Zusammenarbeit gefördert wird. Ein häufig genannter Lösungsansatz ist die Einführung gemeinsamer Budgets oder sektorenübergreifender Vergütungsmodelle: Wenn ambulante und stationäre Leistungserbringer ein gemeinsames Budget oder eine gemeinsame Verantwortung für definierte Patientengruppen tragen, steigt automatisch das Interesse, Informationen effizient auszutauschen, Doppelarbeit zu vermeiden und die ePA als zentrales Instrument zu nutzen. Geteilte Verantwortung und ergebnisorientierte Vergütung könnten die ePA so aus dem Randbereich in das Zentrum der Versorgungspraxis rücken.

Auch auf der Steuerungsebene bestehen Reformbedarfe. Bislang wird die Digitalisierungsagenda in Deutschland von einer Vielzahl von Akteuren bestimmt, was häufig zu langwierigen Abstimmungsprozessen führt. Hinzu kommt, dass auf politischer Ebene die Positionen der ärztlichen Körperschaften im Gesetzgebungsprozess häufig größeres Gewicht erhalten als die Interessen einzelner Patientinnen und Patienten oder anderer Berufsgruppen wie Pflegekräfte, die über keine vergleichbar starke Interessenvertretung verfügen. Dieser strukturelle Machtvorsprung verhindert häufig Reformen zugunsten einer integrierten Versorgung. Jedoch ist die aktive Einbindung der Patientinnen und Patienten unerlässlich. Nur wenn sie konkrete Vorteile in der ePA sehen – etwa durch die Vermeidung von Fehlmedikation oder schnellere Diagnosen –, werden sie die digitale Akte aktiv nutzen.

Die ePA für alle ist zweifellos ein mutiger Schritt nach vorn. Sie könnte die Patientenversorgung, die Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten und die Forschung in Deutschland auf ein neues Niveau heben. Doch der Blick hinter die technische Oberfläche zeigt: Ohne begleitende Strukturreformen droht die ePA, ihr Potenzial nicht auszuschöpfen. Die neue Regierung muss sicherstellen, dass dieses digitale Werkzeug nicht nur bereitgestellt, sondern auch im Versorgungsalltag angenommen wird. Dafür müssen die sektoralen Trennlinien überwunden, finanzielle Anreize überdacht und die Governance klarer gestaltet werden. Jetzt ist der Moment, nicht nur die Technik zu verbessern, sondern auch die Strukturen zu verändern, die über den Erfolg der ePA entscheiden. Nur so kann die ePA zur tragenden Säule einer zukunftsfähigen, vernetzten Gesundheitsversorgung werden.

Hinweis: Dr. Tugce Schmitt von der Maastricht Universität (Niederlande) hat sich in ihrer Dissertation mit der Implementierung der elektronischen Patientenakte in Deutschland befasst und wurde für einen daraus hervorgegangenen Artikel zur deutschen Gesundheitssystemfinanzierung von der Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ) ausgezeichnet.

(mack)