Missing Link: Symbolpolitik des Bundes verschleiert Vollzugsdefizite

Gescheiterte Gefährderansprachen und Datensilos: Warum neue Gesetze und technische Lösungen die strukturellen Probleme der deutschen Terrorabwehr nicht lösen.

vorlesen Druckansicht 60 Kommentare lesen
3D-Illustration einer Menschenmenge, die auf ein Licht zugeht und lange Schatten wirft

(Bild: PHOTOCREO Michal Bednarek/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Johannes 'ijon' Rundfeldt
Inhaltsverzeichnis
close notice

This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine Serie schwerer Anschläge erlebt – vom islamistischen Terror auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016 über den rassistischen Anschlag von Hanau 2020 bis zur Messerattacke in Würzburg 2021 und zuletzt den Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt 2024. Nach jedem dieser Ereignisse reagierte die Bundesregierung mit Gesetzesverschärfungen – etwa dem BND-Gesetz, dem Staatstrojaner-Gesetz oder der Reform des BKA-Gesetzes. Zuletzt forderte der Bundesrat die schnelle Einführung von Datenanalyse-Software als "Interimslösung" für Predictive Policing bei der Polizei.

Eine genaue Analyse dieser Fälle offenbart jedoch ein wiederkehrendes Muster: Nicht fehlende Bundesgesetze, sondern Vollzugsdefizite im Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Landesinnenministerien waren entscheidend. Die Bundesregierung reagierte mit symbolischen Maßnahmen, obwohl sie in der föderalen Sicherheitsarchitektur Deutschlands keinen Einfluss auf die operative Polizeiarbeit vor Ort hat.

Missing Link

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Beim Breitscheidplatz-Anschlag 2016 spielten Entscheidungen im Berliner LKA eine Rolle, die Observation einzustellen, sowie Kommunikationsprobleme zwischen verschiedenen Sicherheitsbehörden. Die später aufgedeckte Manipulation von Akten deutet auf organisationsinterne Probleme hin.

In Hanau 2020 war der Polizeinotruf im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Südosthessen überlastet – ein Ressourcenproblem auf kommunaler Ebene, letztlich aber im Verantwortungsbereich des hessischen Innenministeriums. In Würzburg 2021 trafen mehrere Instanzen Fehleinschätzungen: Eine psychiatrische Einrichtung warnte zwar, das zuständige Amtsgericht lehnte jedoch eine Betreuung ab.

Beim Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt 2024 scheiterten fünf Gefährderansprachen – ein Problem der operativen Polizeiarbeit vor Ort. Die mangelnde Vernetzung der über 100 Hinweise aus verschiedenen Bundesländern verweist allerdings auf ein strukturelles Problem im föderalen System: die fehlende länderübergreifende Koordination bei der Bewertung von Gefährdungssachverhalten.

Die betrachteten Fälle offenbaren lokale Vollzugsdefizite, behördeninterne Probleme und strukturelle Koordinationsschwäche. Dabei ist bemerkenswert: Die rechtlichen Instrumente zur Prävention waren vorhanden – sie wurden nur nicht konsequent angewandt. Dies ist keineswegs als pauschale Kritik an den Sicherheitsbehörden zu verstehen. Im Gegenteil: In zahlreichen anderen Fällen haben funktionierende Kommunikationswege und behördliche Zusammenarbeit erfolgreich Anschläge verhindert. Die beschriebenen Fälle zeigen jedoch deutlich auf, worin die tatsächlichen Probleme bestehen.

Videos by heise

Das Grundgesetz legt fest, dass die Gesetzgebungskompetenz in diesen Bereichen grundsätzlich bei den Ländern liegt. Für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht hat der Bund keine Regelungskompetenz. Die innere Sicherheit ist in Deutschland eine Aufgabe der Länder. Die 16 Landespolizeien bilden mit rund 220.000 Landespolizisten gegenüber etwa 34.000 Bundespolizisten das Rückgrat der Sicherheitsarchitektur.

Diese föderale Aufteilung hat historische Gründe: Nach den Erfahrungen der NS-Zeit wollte man bewusst keine Machtkonzentration in Bundeshand. "Polizei ist Ländersache" lautet daher ein grundlegendes Prinzip. Dem Bund obliegt nur ein vergleichsweise schmaler Ausschnitt an Zuständigkeiten – etwa der Grenzschutz (Bundespolizei) oder die Strafverfolgung bestimmter Delikte durch das Bundeskriminalamt. Für die reguläre Gefahrenabwehr im Innern fehlt dem Bund jedoch die verfassungsrechtliche Befugnis.

Diese strukturelle Ohnmacht der Bundespolitik erklärt, warum Bundesregierungen nach Anschlägen oft zu gesetzgeberischen Ersatzhandlungen greifen. Das eigentliche Problem vor Ort – ausbleibende Gefährderansprachen, fehlende Vernetzung von Hinweisen oder unbesetzte Notrufleitungen – kann dadurch aber nicht gelöst werden.

Dort, wo die fehlende Vernetzung von Informationen oder Hinweisen ursächlich war, werden schnell neue Koordinationsplattformen gefordert. Dabei bleibt außer Acht, dass diese Aufgabe gesetzlich klar geregelt ist. In §1 Absatz 1 im Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (BKAG) heißt es: "Der Bund unterhält ein Bundeskriminalamt zur Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten."

Dieser Satz alleine macht klar, dass es im Zuständigkeitsbereich des BKA liegt, die Landesbehörden miteinander zu vernetzen und länderübergreifend die Strafverfolgung zu koordinieren. Wenn mal wieder "bessere Koordination unter den Ländern" gefordert wird, ist das ein Eingeständnis, dass auch das BKA ein Vollzugsdefizit hat.

Die Forderung nach Datenanalyse-Plattformen wie Palantir knüpft direkt an die identifizierten Probleme an. Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen setzen die Software bereits ein. Besonders im Fall Magdeburg mit seinen über 100 dokumentierten Hinweisen wird deutlich: Die Fragmentierung von Informationen über verschiedene Behörden und Bundesländer hinweg erschwert eine Gesamtbewertung der Gefährdungslage.

Das Unternehmen Palantir verspricht, was in allen vier analysierten Fällen fehlte: die frühzeitige Erkennung von Gefährdern durch systematische Auswertung vorhandener Informationen. Algorithmen könnten Verbindungen zwischen isolierten Vorfällen herstellen, die menschlichen Analysten entgehen, und automatisierte Warnungen bei Risikomustern auslösen.

Dabei ist auch dies eine Aufgabe der deutschen Polizeien. Schon 2005 wurde das Programm „Polizei 2020“ angekündigt. Dabei sollten die Datenbanken der Länderpolizeien in einem Informationsverbund namens „PIAV“ zusammengeführt werden. Dieses Projekt ist auch im Jahr 2025 noch nicht abgeschlossen – das werde „frühestens 2030“ passieren, hört man aus Sicherheitskreisen.

Anstatt nun dies Projekt unter Hochdruck abzuschließen, soll ein amerikanisches Unternehmen mit Überwachungsgeschichte die Kuh vom Eis holen. Dabei scheint niemand der Verantwortlichen problematisch zu finden, einem US-Unternehmen Zugriff auf die Daten deutscher Polizeibehörden zu geben, das damit dann seine eigene KI trainiert.

Aus Sicht der Landesbehörden ist es einfach: Die mühsame Integrationsarbeit der verschiedenen Datenquellen überlassen sie Palantir, anstatt diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Auch der Griff zur bürgerrechtlich höchst fragwürdigen Software von Palantir ist also Ausdruck eines Vollzugsdefizits auf Landesebene.

Nach schweren sicherheitsrelevanten Vorfällen ist häufig ein Muster zu beobachten: Die öffentliche Erwartung richtet sich primär an die Bundespolitik, obwohl die operative Zuständigkeit bei den Landesregierungen liegt. Während der Bund durch sichtbare Reaktionen und mediale Präsenz stärker in den Fokus rückt, geraten die Länder seltener in den Mittelpunkt der Diskussion.

Dabei ergibt sich eine Diskrepanz: Bundespolitische Maßnahmen vermitteln Handlungsfähigkeit, können jedoch die strukturellen Herausforderungen auf Landesebene nicht beeinflussen. Dies birgt das Risiko, dass der Rechtsstaat auf Bundesebene mit weitreichenden, aber wenig wirksamen Kompetenzen überladen wird, während Umsetzungsprobleme vor Ort fortbestehen.

Für eine wirksame sicherheitspolitische Debatte ist eine präzise Zuordnung von Zuständigkeiten entscheidend. Die Polizeiarbeit sowie die Gefahrenabwehr liegen in der Verantwortung der Innenministerien der Länder. Nur auf dieser Ebene lassen sich nachhaltige Reformen gezielt einleiten und umsetzen. Deshalb ist es wichtig, die Diskussion nach sicherheitsrelevanten Vorfällen nicht vorschnell auf Bundespolitikerinnen und -politiker zu fokussieren, sondern die zuständigen Landesministerien in die Verantwortung zu nehmen.

Symbolpolitische Maßnahmen auf Bundesebene mögen politisch wirksam erscheinen, ersetzen jedoch keine strukturellen Verbesserungen auf Landesebene, wo die Ursachen konkreter Versäumnisse zu häufig liegen. Notwendige Reformen müssen dort angestoßen werden, wo sie tatsächlich wirksam sein können – damit Grundrechte wie Freiheit und Sicherheit gleichermaßen geschützt bleiben.

(nen)