"Party Girl": Vor 30 Jahren wird der erste Spielfilm live gestreamt

Am 3. Juni 1995 hat der Spielfilm "Party Girl" Premiere im Internet. Das Streaming-Zeitalter beginnt.

vorlesen Druckansicht 12 Kommentare lesen
Screenshot aus "Party Girl"
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • RenĂ© Meyer
close notice

This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Hauptdarstellerin Parker Posey höchstpersönlich drückt auf den "roten Knopf", als am 3. Juni 1995 zum ersten Mal ein Spielfilm über das Internet gestreamt wird – und das sogar als Weltpremiere. Ort des Geschehens ist ein kleines Büro der Hosting-Firma Point of Presence in Seattle. Man hat einige Freunde und Kollegen eingeladen, damit es nach Party aussieht. Die NBC ist auch dabei – und würdigt den Abend mit einem kurzen TV-Beitrag. "Cyberflix" könnten in der Zukunft die Art verändern, wie wir Filme schauen, sagt die Moderatorin prophetisch.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

"Das ist sehr aufregend", sagt Parker Posey in ihrer kurzen Eröffnungsrede, die als Video live vorab gesendet wird – und sie möchte alle ermutigen, trotzdem 7,50 Dollar für eine Kinokarte zu zahlen. Denn der Film-Stream, an dem einige Hundert Zuschauer weltweit teilnehmen, ist kostenlos. Es ist mehr ein Experiment als ein Genuss: Das Bild ist nur schwarzweiß, die Auflösung beträgt 320x240 Pixel, und es werden nur ein paar Frames pro Sekunde gezeigt.

Die Zeit ist reif für solche Vorstöße. Wenn man ein Jahr nennen müsste, in dem das Internet seinen Durchbruch hat, dann würde man vielleicht 1995 wählen. Das Netz wird kommerziell, die Zahlen der Nutzer und der Websites steigen stark an. Leuchtender Stern: Yahoo. Netscape geht an die Börse. Amazon, Ebay und Real Networks starten. Und Windows 95 scharrt mit den Füßen.

Eine Reihe von Spielfilmen gibt dem Internet 1995 Raum. "Hackers" (mit Angelina Jolie), "Das Netz" (mit Sandra Bullock), "Alarmstufe Rot 2" (mit Steven Seagal) oder "Vernetzt – Johnny Mnemonic" (mit Keanu Reeves). Dennoch ist der erste Streaming-Film einer, der so gar nichts mit Computern zu tun hat: "Party Girl". Nach einer wilden Nacht wird die unbekümmerte Mary von ihrer Paten-Tante aus dem Gefängnis befreit. Um die Kaution zurückzuzahlen, beginnt sie, in deren Bibliothek zu arbeiten – und ihr oberflächliches Leben aus Mode und Party zu hinterfragen.

Die Idee für die Ausstrahlung über das Netz kommt vom SIFF, dem Seattle International Film Festival. Dort soll der Film doppelt Premiere feiern: einmal in einem Kino, einmal als Netz-Stream. Es braucht nicht lange, um die Produzenten zu überzeugen. Während die einen der technische Aspekt interessiert, versprechen sich die anderen Publicity. Gerade bei einem Film, der nur 150.000 Dollar gekostet hat.

Das SIFF kooperiert bereits mit dem Online-Magazin Film.com der Journalistin und Netzwerkerin Lucy Mohl. Sie verlässt Anfang 1994 das Fernsehen, um sich dem Internet zu verschreiben, und gilt in der Branche als Mentorin für das Internet. Sie ist die Anlaufstelle, bei der sich etwa Werner Herzog über seinen IMDB-Eintrag beschwert.

SIFF-Sponsor Silicon Graphics, Apple und ein Beratungsunternehmen aus Los Angeles koordinieren die Aufgabe. Ein Platz in Seattle mit potenter Leitung, von wo aus das Streamen stattfinden soll, ist schnell gefunden: Der Hoster von Film.com, einer der ersten Hoster von Internet-Seiten in Seattle, die junge Firma Point of Presence von Glenn Fleishman. In seinen Räumen steigt die Party.

Zum Senden und Empfangen wird die Software CU-SeeMe (Wortspiel!) verwendet, ein Vorreiter in Sachen Videokonferenzen auf PCs. Sie wird an der Cornell University an der Ostküste der USA entwickelt und erscheint 1992 für den Mac und 1994 für Windows. Mit CU-SeeMe lassen sich Direktverbindungen zwischen zwei Rechnern aufbauen (allein über die IP- oder Hostadresse). Für eine Übertragung an viele Empfänger richtet man einen Server ein, einen sogenannten Reflektor. Dank einer 1,5 MBit/s starken T1-Leitung kann direkt im Büro ein Server bereitgestellt werden, was für ungefähr 100 Zuschauer genügt. Daher wird gleichzeitig zu einem weiteren Reflektor an ein College gesendet, der als Mirror dient.

Glenn Fleishman sagte heise online: "Ich erinnere mich, wie neu und aufregend es war, einen Film über das Internet zu streamen, obwohl die Qualität so schlecht war. Es fühlte sich an wie der Anfang von etwas. Aber ich fragte mich, ob es jemals genug Bandbreite geben würde, um Fernsehen und Filme in hoher Auflösung auf Abruf zu streamen. Ich zweifelte, aber ich wurde eines Besseren belehrt."

Videos by heise

Angekündigt wird die Ausstrahlung – natürlich – im Internet. "The Party Is Just Beginning! Party Girl CU-SeeMe Live Broadcast". Und vielleicht passt das Thema des Films doch zum Zeitgeist. "Ein Freund von uns nannte es den Sommer der Liebe auf der Datenautobahn", sagte Lucy Mohl heise online. "Den ersten Film online zu hosten, obwohl man wusste, wie er mit so niedriger Bitrate, mit all den Rucklern und allem, aussehen würde, entsprach genau der damaligen Einstellung."

Dem Film, in Deutschland als "Crazy Party Girl" erschienen, hilft seine Rolle als Online-Erster nicht. Er wird überschattet vom weitaus erfolgreicheren "Clueless" mit Alicia Silverstone, der wenige Wochen später erscheint. Wie sich dagegen das Streaming entwickelt hat, wissen wir alle.

Für die ganz Genauen: Bereits 1993 wurde die schräge Indie-Mockumentary "Wax oder die Entdeckung des Fernsehens unter den Bienen" zwei Jahre nach ihrem Erscheinen als Stream angeboten – allerdings war das kein Spielfilm, keine Premiere und nicht live.

(dahe)