Zahlen, bitte! Albert Einsteins 8-Minuten-Streit um die Sonne
Wirkt sich die explodierende Sonne sofort oder erst nach 8 Minuten auf die Erde aus? Zu der Diskussion schuf Einstein 1915 die Allgemeine Relativitätstheorie.
(Bild: heise online)
Im Juni 1915 reiste Albert Einstein von Berlin nach Göttingen. Dort hielt er an der Universität auf Einladung des Mathematikers David Hilbert sechs zweistündige Vorlesungen über seine Abhandlung "Die formale Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie", die 1914 erschienen war.
Der 53-jährige Hilbert diskutierte angeregt mit dem Nachwuchswissenschaftler, etwa über das Problem, was mit der Erde passieren würde, wenn die Sonne explodiert. Bleibt sie noch 8 Minuten auf ihrer elliptischen Bahn oder torkelt sie zeitgleich in den Weltraum? Nach dem Besuch eröffnete Hilbert in einem Brief an Einstein, dass er seine Vorlesungen sehr genossen habe und sich nun selbst mit den mathematischen Grundlagen dieser Relativitätstheorie beschäftigen werde. Plötzlich hatte Einstein ernsthafte Konkurrenz.
Einstein selbst hatte zu diesem Zeitpunkt mit seiner Speziellen Relativitätstheorie im Jahre 1905 die klassische Mechanik von Newton aus den Angeln gehoben: Zeit und Raum sind keine absoluten Konstanten, sondern relativ. Zeit und Raum konnten gekrümmt werden, abhängig von der Masse von Planeten. Auch das Licht unterliegt diesen Gravitationsfeldern.
Einstein sucht sich Mathematik-Nachhilfe
Zum endgültigen Beweis seiner Theorie brauchte der Physiker Einstein mathematische Nachhilfe in n-dimensionaler Geometrie, wie sie der Mathematiker Bernhard Riemann mit seinen Überlegungen zu gekrümmten Räumen angestoßen hatte. Er schrieb an seinen Freund Marcel Grossmann, der mittlerweile Mathematikprofessor in Zürich geworden war: "Grossmann, du musst mir helfen, sonst werd’ ich verrückt." Grossmann half, erklärte Einstein geduldig die Grundlagen der modernen Geometrie und korrigierte dessen Berechnungen.
(Bild:Â gemeinfrei, Ferdinand Schmutzer)
Um 1914, als das Projekt in erster Phase abgeschlossen war, misstraute Einstein jedoch seinen Berechnungen. Deswegen war er an einem Austausch mit David Hilbert interessiert, der damals der führende deutsche Mathematiker war. Ein weiterer Punkt: Der Erste Weltkrieg tobte und der Pazifist Einstein hatte wie Hilbert und Max Planck eine Denkschrift gezeichnet, die die Pläne der siegesgewissen Annexionisten in der Kriegszieldebatte ablehnte, die Belgien ins Reich "heimholen" wollten.
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Einstein stieg im Hotel ab und diskutierte seine Ideen mit den Besuchern seiner Vorlesung, eben auch das Denkmodell der explodierenden Sonne. Nach der newtonschen Himmelsmechanik müsste die Erde sofort ohne zeitliche Verzögerung aus ihrer Umlaufbahn torkeln, während Einstein dagegenhielt, dass die Raumzeit nicht schneller als die Lichtgeschwindigkeit sein kann. Wenn die Sonne ihre Form verliert, brauchen die Informationen mehrere Lichtminuten, bis sie die Erde beeinflussen.
Mittbewerber um die Erschaffung der Allgemeinen Relativitätstheorie
Nach seinen Vorträgen in Göttingen macht Einstein Urlaub, zunächst auf Rügen. Er schreibt an einen Freund: "Von Hilbert bin ich ganz begeistert. Ein bedeutender Mann!" Dann besucht er seine getrennt von ihm lebende Frau in der Schweiz. Schließlich erreicht ihn ein Brief von Hilbert, der ankündigt, sich selbst mit der Relativitätstheorie zu beschäftigen. Einstein steht nun unter enormen Druck, seine Theorie der Gravitation auszuarbeiten und der Fachwelt vorzustellen.
Er arbeitet fieberhaft, bis er basierend auf seinen alten Berechnungen zehn Gleichungen formulieren kann, die unter dem Titel "Die Feldgleichungen der Gravitation" im November 1915 in der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften vorstellt. Die Allgemeine Relativitätstheorie ist vollendet. "Damit ist endlich die Allgemeine Relativitätstheorie als logisches Gebäude abgeschlossen", beendet Einstein seinen Vortrag vor der Akademie am 25. November. Am 2. Dezember geht sein Vortrag in den Druck.
(Bild:Â gemeinfrei)
Auch Hilbert hat es geschafft und stellt seine Überlegungen am 16. November in Göttingen vor. Er schickt dem erkrankten Einstein eine Postkarte mit seinen Ideen und gibt den Vortrag am 20. November zum Druck. Einstein ist über die Entwicklung alles andere als erfreut und grummelt gegenüber Dritten, dass Hilbert seine Theorie "nostrifiziert" habe.
Auch Hilbert ist nicht sonderlich erbaut, gibt aber Einstein den Vorrang: "Jeder Straßenjunge in Göttingen versteht mehr als Einstein von vierdimensionaler Geometrie und doch hat er die Arbeit gemacht und nicht die Mathematiker." Die beiden herausragenden Wissenschaftler vertragen sich bald wieder. Als Einstein nach Göttingen kommt, ist er Gast der Familie Hilbert. Es sollte über 90 Jahre dauern, bis der Streit eskalierte, ob Hilbert Einstein oder Einstein Hilbert plagiierte, ein Streit, der über die zerschnittenen Druckfahnen von Hilberts Korrekturen zu seinem Aufsatz eskalierte.
Nachweis der RaumkrĂĽmmung durch Sonnenfinsternis
Einstein schickte den Druck seines Vortrages an Freunde in den Niederlanden. Der Astronom Wilhelm de Sitter leitete sie nach Großbritannien zum Astrophysiker Arthur Eddington weiter, der sich sehr für Einsteins Arbeiten zur Relativitätstheorie interessierte. Wie Eddington an Sitter schrieb, bereitete er im Juni 1916 zwei Expeditionen vor, die Einsteins Gravitationstheorie bestätigen konnten. Wenn eine Masse von der Größe der Sonne den Raum krümmen kann, dann müssten Sterne, die von der Erde aus gesehen nahe der Sonne stehen, verschoben erscheinen, weil der Lichtstrahl durch die Sonne abgelenkt wird.
Das wiederum wäre nur während einer Sonnenfinsternis feststellbar, bei der die Sterne in nächster Nähe sichtbar werden. Zur Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919 sollten zwei Expeditionen von der westlichen Küste von Afrika und von Brasilien aus diese "Nachbarn" fotografieren können, was trotz einiger Hindernisse gelang. "Einsteins Theorie triumphiert", schrieb die New York Times, "Sterne sind nicht da, wo sie sein sollten oder wo sie berechnet wurden, aber niemand sollte sich ängstigen."
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Spätestens nach diesen Expeditionen war sich Einstein sicher, den Nobelpreis zu erhalten. Er vermachte das Preisgeld im Scheidungsvertrag von 1919 an seine erste Frau und seine Söhne. Im Jahr 1922 erhält er nachträglich den Nobelpreis für das Jahr 1921 -- nicht für seine Relativitätstheorie(n), sondern für eine Arbeit, die am 9. Juni 1905 in den "Annalen der Physik" erscheint.
Vor 120 Jahren erklärte Einstein in dem Aufsatz "Über einen die Erzeugung und Verwandlung von Licht betreffenden heuristischen Gesichtspunkt" die Natur des Lichts, das sich gewissermaßen in Portionen bewegt. "Energie ist während der Ausbreitung eines Lichtstrahls nicht kontinuierlich über stetig größer werdende Räume verteilt, sondern besteht aus einer begrenzten Anzahl von Energiequanten, die an Punkten im Raum lokalisiert."
Für Einsteins Theorien haben sich bis heute zahlreiche Beweise finden lassen. Die Fortsetzung seiner Ideen könnten sich in einer neuen Theorie manifestieren, die Quantenmechanik der kleinen Teilchen mit der Relativitätstheorie der großen Massen verbindet. Vielleicht gelingt es so, über den Urknall zu springen und hinter das Geheimnis der dunklen Energie zu kommen, die Einstein als kosmologische Konstante beschrieb.
Und was ist mit der Erde? Wenn die Sonne explodiert, bekommen wir es frühestens in 8 Minuten zu spüren, da sich auch Veränderungen in der Gravitation nicht schneller als das Licht auswirken kann.
Update: Um Schlusssatz ergänzt.
(mawi)