Zahlen, bitte! 200 buchstäblich elektrisierte Mönche im Dienste der Wissenschaft

Die Grundlagenforschung zur Elektrizität trieb so einige seltsame Blüten: von der Zwei-Flüssigkeiten-Theorie bis zu unter Strom stehenden Glaubensbrüdern.

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Von
  • Detlef Borchers
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Das Zeitalter der Aufklärung ist auch das der Entdeckung der statischen Elektrizität. Von 1730 bis 1740 wurde die Reibeelektrisiermaschine entscheidend verbessert und von Wissenschaftlern, aber auch von Schaustellern auf Jahrmärkten präsentiert. Die "Funkenwissenschaft" war ein Spektakel, aber auch ein schwer zu erklärendes Phänomen. Mit der zufälligen Entdeckung der Leidener Flasche stand ein Kondensator zur Verfügung, der die Wissenschaftler bei ihren Experimenten unterstützte.

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Einer von ihnen war Abbé Jean-Antoine Nollet, der den Namen "Leidener Flasche" für die Entdeckung des elektrischen Speichers durch Pieter van Musschenbroek beziehungsweise Ewald Georg von Kleist prägte. Der Physiker Nollet war ein Verfechter der "Zweiflüssigkeitstheorie", die Elektrizität mit zwei Flüssigkeiten in elektrisierten Körpern erklärte, von ihm "Effluvium" und "Affluvium" genannt.

Zahlen, bitte!
Bitte Zahlen

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Abbé Jean-Antoine Nollet wurde 1700 in Pimpré bei Noyon geboren und studierte zunächst Theologie. Er wurde zum Priester geweiht, übte das Amt jedoch nie aus, behielt aber den Titel Abbé. Unter dem Einfluss des Naturforschers René-Antoine Ferchault de Réaumur entschied er sich für die Physik und arbeitete zunächst für den Physiker Charles du Fay, der zahlreiche Versuche mit der Reibungselektrizität durchführte. Du Fay erkannte 1733, dass es zwei Arten von Elektrizität geben muss, die er Glaselektrizität und Harzelektrizität nannte.

Jean-Antoine Nollet (* 19. November 1700 in Pimpré, Noyon; † 24. April 1770 in Paris) war Geistlicher und wurde später erster Professor für Experimentalphysik in Frankreich. Er entdeckte die Osmose und gab der Leidener Flasche ihren Namen.

(Bild: Maurice Quentin de La Tour / gemeinfrei)

Doch wie schnell verbreiteten sich diese positiven und negativen Flüssigkeiten eigentlich? Im Jahre 1746 versammelte Nollet deshalb im aufwendigsten Experiment seiner Zeit 200 Kartäusermönche in einem 1,5 km großen Kreis. Sie waren über Drähte und Messingstäbe in der Hand miteinander verbunden. Über einen weiteren Messingstab schloss er sie an eine elektrisch geladene Leidener Flasche an. Die Mönche zuckten und stolperten gleichzeitig unter dem elektrischen Schock, was Nollet zur Beobachtung zusammenfasste, dass diese Elektrizität sehr schnell unterwegs ist und die Geschwindigkeit mit den Mitteln der Zeit nicht gemessen werden konnte.

Als König Ludwig XV. von dem Experiment erfuhr, befahl er Nollet nach Versailles und ließ Nollet das Experiment mit 180 Soldaten wiederholen. Er amüsierte sich königlich, wie seine Soldaten taumelten und ließ sich weitere physikalische Experimente zeigen. Später wurde der Bauernsohn Nollet Lehrer der Königskinder.

Nollet selbst entwickelte neben seiner eigenen Theorie ständig neue Experimente, etwa den elektrischen Jungen, der an isolierenden Seilen in der Luft hing und mit einer Elektrisiermaschine aufgeladen beziehungsweise "in einen elektrischen Zustand versetzt" wurde, wie Nollet schrieb. Zuschauer konnten dann beobachten, wie Gegenstände an seinem Körper hafteten, sie konnten ihn auch anfassen und sich einen kleinen elektrischen Schlag holen.

Seine Zweiflüssigkeitstheorie der Elektrizität fasste Nollet 1749 in seinem Werk "Recherches sur les causes particulieres des phénoménes électriques" zusammen, das große Beachtung erfuhr. Er war Professor für Physik am College de Navarre in Paris, als Benjamin Franklins "Experiments and Observations on Electricity made at Philadelphia in America" erschien, das Elektrizität mit einer "single fluid, two charges theory" erklärte. Zwei unterschiedliche Ladungen gleichen sich aus, wie bei der Führung eines Geschäftskontos, schrieb Franklin. Im Zuge seiner Experimente hatte Franklin zudem erkannt, dass Blitze nichts anderes sind als elektrische Funken, die mit einem Blitzableiter umgelenkt werden konnten.

Zeitgenössische Illustration des “Electric Boy”-Experiments. Ein junger Mann hängt an isolierenden Seidenfäden und wird durch Stromzufuhr elektrisch geladen, sodass einige Gegenstände durch die statische Aufladung von ihm angezogen wird. Gleichzeitig streckt eine Frau ihre Hand nach ihm, was eine Entladung zur Folge hat: Sie bekommt einen leichten Stromschlag.

(Bild: gemeinfrei)

Der Blitz, seit dem Altertum als göttliche Macht gefürchtet wurde, war eine physikalische Erscheinung. "Dem Himmel hat er den Blitz entrissen, den Tyrannen das Zepter", dichtete Anne Robert Jacques Turgot. Franklins Buch wurde sofort ins Französische übersetzt und mit einem Vorwort versehen, das Nollet und seine Experimente völlig ignorierte. Sofort begann Nollet mit einer Serie von hitzigen und polemischen Briefen an Franklin, die dazu führten, dass sich die junge Wissenschaft der Physik in Franklinisten und Nicht-Franklinisten spaltete. Mit seiner Autorität als Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften sorgte Nollet dafür, dass Blitzableiter in Frankreich verpönt waren. Erst nach seinem Tod wurde der erste Blitzableiter installiert, ausgerechnet auf dem Dach der Akademie in Dijon.

Nollet schrieb auf Französisch, Franklin auf Englisch. Auf Deutsch schrieb der Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg über die Theorien der beiden Kontrahenten: Zum Zeitalter der Aufklärung gehört, dass sich die Wissenschaft vom Latein als der Gelehrtensprache verabschiedete. Noch der englische Arzt William Gilbert, der den Begriff "Elektrizität" in Abgrenzung zum Magnetismus prägte, schrieb auf Latein: "De Magnete, Magnetisque Corporibus, et de Magno Magnete Tellure" war sein Hauptwerk. Durch die Nutzung der Vernakularsprachen verbreiteten sich wissenschaftliche Erkenntnisse viel schneller und wurden auch außerhalb der Welt der Gelehrten wiedergegeben. Die Popularisierung blieb nicht ohne Folgen: Nollets berühmtes Experiment mit den Soldaten seines Königs in Versailles zirkulierte bald als vielfach gedruckte Illustration der "electrischen Kraft".

(mawi)