Symptome wie bei Trunkenheit: Forscher untersuchen Effekte von Mixed Reality
Mixed-Reality-Headsets wie Meta Quest 3 und Apple Vision Pro zeigen die Welt als Videofeed. Welche Auswirkungen das haben kann, untersucht eine Studie.
Meta Quest 3S. Zwei der schwarzen Punkte sind Kameras, die die Umgebungen einfangen.
(Bild: Meta)
Mixed-Reality-Headsets unterscheiden sich grundlegend von AR-Brillen und herkömmlichen Sehhilfen: Statt direkt durch Glas auf die Umgebung zu blicken, sehen Nutzer die Welt vermittelt über Kameras, Displays und spezielle Linsen. Diese Technik heißt "Passthrough" und ist in der Unterhaltungselektronik noch relativ neu. Entsprechend wenig erforscht sind ihre Auswirkungen auf Wahrnehmung und Körperempfinden.
Forscher der Norwegian University of Science and Technology in Gjøvik und Trondheim haben untersucht, wie sich Passthrough-Geräte auf Gehen, Geschicklichkeit und Ganzkörperkoordination auswirken.
An der Studie nahmen 20 Personen im Alter zwischen 18 und 77 Jahren teil. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe nutzte das Low-End-Headset "Merge", eine nach dem Google-Cardboard-Prinzip funktionierende Schaumstoffhalterung, in die ein Pixel-6-Smartphone als Display eingelegt wurde. Dessen Kamera ermöglicht zugleich das Passthrough. Die zweite Gruppe nutzte mit Meta Quest 3 ein aktuelles und technisch deutlich fortschrittlicheres Mixed-Reality-Headset.
Negative Effekte bei beiden Geräten
Die Teilnehmer mussten mit aktiviertem Passthrough mehrere Aufgaben bewältigen, die Geh- und Orientierungsvermögen, Geschicklichkeit im Umgang mit Alltagsgegenständen sowie Körperkoordination und Gleichgewicht prüften. Die letzte Aufgabe war motorischen Tests aus Alkoholkontrollen nachempfunden: Die Teilnehmer sollten von einem Punkt aus Ferse an Zehe in gerader Linie zu einem Zielpunkt und wieder zurück gehen und anschließend 30 Sekunden lang auf einem Fuß balancieren.
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Für die Auswertung wurden verschiedene Fragebögen, Selbstauskünfte sowie qualitative Erkenntnisse aus Beobachtungen und Interviews mit den Teilnehmern herangezogen. Die Forscher kamen zum Schluss, dass beide Passthrough-Geräte die Orientierung, das Wohlbefinden und die alltägliche Aufgabenbewältigung negativ beeinflussen. "Beide Systeme bleiben hinter dem Versprechen einer nahtlosen Interaktion und Integration der Realität zurück. Die Teilnehmer zeigten Symptome, die einer Alkoholisierung ähneln, darunter Koordinationsverlust, allgemeines Unwohlsein sowie Schwierigkeiten, den Fokus zu halten und sich zu konzentrieren", schreiben die Forscher in ihrem Resümee.
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In Anlehnung an die von Virtual Reality bekannte Cybersickness regen die Forscher zu einer eigenen Forschungskategorie fĂĽr Passthrough-spezifische Symptome an, die sie "CybAR sickness" nennen, in Anlehnung an die Augmented Reality, die Passhtrough-Systeme erzeugen.
Mixed-Reality-Headsets sind schlechte Brillen
Ein Blick auf die Einzelergebnisse zeigt, dass die Gruppe mit Quest 3 bei den meisten Aufgaben deutlich besser abschnitt und zugleich weniger sowie mildere Symptome aufwies. Symptomfrei blieb die Nutzung jedoch auch hier nicht: Bei beiden Geräten zeigten die Teilnehmer ein gewisses Maß an Zögern und Unsicherheit. Die Forscher betonen zudem, dass die Aufgaben einfach waren und in einer idealen Umgebung durchgeführt wurden. Damit blieben viele Herausforderungen außen vor, denen Nutzer in realen Szenarien begegnen könnten, etwa Treppen, unebenes Gelände, wechselnde Lichtverhältnisse oder Hindernisse auf Bodenhöhe.
Vor diesem Hintergrund ĂĽberrascht es nicht, dass Meta und Apple empfehlen, ihre Mixed-Reality-Headsets nur in sicheren Umgebungen zu nutzen. In der Regel also zu Hause statt im Freien.
(Bild:Â Meta)
Die Einschränkungen aktueller Passthrough-Technik sind gut bekannt: Die durch Kameras, Displays und Pancake-Linsen vermittelte Welt verliert an Farbe, Schärfe, Tiefe und Helligkeit. Das Sichtfeld beträgt nur 100 Grad und ist damit ungefähr halb so weit wie das natürliche menschliche Gesichtsfeld. Natürliches Fokussieren ist nicht möglich, und nimmt das Licht in der Umgebung ab, wirkt das Bild schnell körnig. Da die Außenkameras zudem nicht in Augenposition montiert werden können, müssen Algorithmen das Bild in Echtzeit nachkorrigieren, was zu hoher Latenz und Verzerrungen führen kann. Mixed-Reality-Headsets verschlechtern die menschliche Sicht also deutlich.
Langzeitfolgen sind unbekannt
Dieses Problem könnte sich in Zukunft abschwächen. Meta Quest 3 und Apple Vision Pro zählen zu den ersten Geräten, die Passthrough-Technik ernsthaft erproben. Bei künftigen Generationen werden Hard- und Software deutlich reifen und so die eine oder andere Einschränkung abmildern. Schon das Passthrough der Quest 3 ist heute dank Software-Updates deutlich besser als zur Markteinführung des Headsets. Für ihre Studie nutzten die Forscher Version 59 des Quest-Betriebssystems, die noch nicht von späteren Verbesserungen bei Auflösung, Bildqualität und Verzerrungskorrektur profitierte.
(Bild:Â tobe)
Nicht untersucht wurde übrigens die Langzeitwirkung von Passthrough. Die Aufgaben dauerten bewusst weniger als 15 Minuten. Doch was passiert, falls Mixed-Reality-Headsets eines Tages so leicht und leistungsfähig sind, dass man mit ihnen arbeiten oder sie stundenlang im Alltag tragen kann? Welche Auswirkungen hätten sie auf den Sehapparat, die Konzentrationsfähigkeit, die kognitive Belastung und das allgemeine Wohlbefinden? Darauf muss die Forschung noch Antworten finden.
Die Studie mit dem Titel "Are you drunk? No, I am CybAR sick!" ist frei im Netz zugänglich.
(tobe)