Zahlen, bitte! 600 Kopfhörer für die Simultanüberbersetzung der Gerechtigkeit
Die Nürnberger Prozesse waren nicht nur wichtiger Baustein zur Aufarbeitung des Nazi-Unrechts, sie verhalfen der Simultanübersetzung zum Durchbruch.
Nach der Stunde Null im Jahr 1945 begann die rechtliche Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft. IBM-Techniker und Soldaten des Fernmeldetrupps der US-Armee in Nürnberg wurden mit der Planung und dem Aufbau des IBM-Translator-Systems für die Nürnberger Prozesse beauftragt. Mit dem Einsatz in den Gerichtsverhandlungen gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Regimes feierte das über Kopfhörer gesendete Simultanübersetzen seinen technologischen Durchbruch.
Die moderne Konferenzanlage war eine Weiterentwicklung des Filene-Finlay-IBM-System, das IBM beim Völkerbund in Genf installiert hatte und unter dem Namen "Hushaphone" vermarkten wollte. Das bezog sich auf den Fachbegriff "Chuchotage", bei dem ein Gespräch simultan in einer anderen Sprache in das Ohr eines Zuhörers geflüstert wurde.
Großen Anteil an dieser technischen Pionierleistung hatte der in Frankreich geborene Léon Dostert, der bereits im Ersten Weltkrieg erst für die deutschen, dann für die US-amerikanischen Truppen gedolmetscht hatte. Im Zweiten Weltkrieg war er Leiter des Translation Office der US-Streitkräfte in Europa. Seine Übersetzungen der Reden von Dwight D. Eisenhower und Charles de Gaulle anlässlich der Befreiung von Paris gelten heute noch als Glanzlichter des Dolmetschens. Dostert wurde zum Chefdolmetscher der dreizehn Prozesse berufen, die vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg durchgeführt wurden.
Videos by heise
Nach dem Londoner Viermächteabkommen vom August 1945 sollte der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in den vier Sprachen Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch durchgeführt werden. Diese Anforderung wäre mit den damals üblichen Konsekutivübersetzungen bei Gerichtsverhandlungen nicht umsetzbar gewesen.
Erste Simultanübersetzung beim Völkerbund
Ein Telefonsystem, das gleichzeitig mehrsprachige Übersetzungen ermöglichte, hatten der britische Ingenieur Alan Gordon-Finley und der US-amerikanische Geschäftsmann und Philanthrop Edward Albert Filene für den Völkerbund in Genf im Jahre 1927 installiert. Filene hatte dafür 10.000 Dollar bereitgestellt, im Gegenzug sollte das Verfahren patentiert werden. Doch die klobigen Kopfhörer kamen bei den Teilnehmern nicht besonders gut an. So machte sich Finley an die (erfolglose) Arbeit, mit seinem "Stethophone" eine Art Ohrhörer zu entwickeln.
Filene notierte unterdessen, dass das System bei einer neuen nachgeordneten Organisation des Völkerbundes, der International Labour Organization (ILO) akzeptiert und gelobt worden war. Das führte dazu, dass das Filene-Finley-System 1931 auch beim Völkerbund einzog. Es erhielt den Vorzug vor einem System von Siemens & Halske, das 1930 bei der zweiten World Power Conference in Berlin zum Einsatz kam.
Der Versuch der beiden Partner, mit AT&T einen Telefonkonzern zum weiteren Ausbau der Übersetzungsanlage zu gewinnen, scheiterte jedoch. Daraufhin wandte sich Filene direkt an den IBM-Präsidenten Thomas J. Watson, den er von Tagungen der Internationalen Handelskammer her kannte. Watson erkannte wiederum, dass sich so der Name IBM als Name für Völkerverständigung vermarkten ließ und so finanzierte sein Unternehmen den Ausbau und die Weiterentwicklung der Anlage in Genf. Als Filene-Finlay-IBM-System wurde die Anlage patentiert, vor allem über die Schalter, mit der die Delegierten zwischen verschiedenen Kanälen und damit Sprachen wechseln konnten.
(Bild: International Labour Organisation)
Intern wurde das System "Hushaphone" genannt. Als das Patent verfiel, wurden alle Namen auf den Kopfhörern ausgetauscht und das IBM Translator System war geboren. "That all Men may understand -- Each in His Own Togue -- with the International Translator System", warb IBM für seine Anlage.
Logistische Herausforderung der Beschaffung und Installation
Als Léon Dostert bei IBM anfragte, die Anlage für die Nürnberger Prozesse zu nutzen, sagte IBM sofort zu, die modernste Anlage zu schicken und zu installieren, sofern die US-Armee die Transportkosten übernehme. Ob bei dieser Zusage das Verhalten der deutschen IBM-Tochter Dehomag eine Rolle spielte, die mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatte, ist umstritten. Jedenfalls kamen so drei große Behälter mit vielen Mikrofonen und 300 Kopfhörern nach Nürnberg, weitere 300 Hörer wurden aus der Schweiz herbeigeschafft. IBM-Techniker und die Fernmelder der US-Armee installierten ein System, das zum Sinnbild der Nürnberger Prozesse wurde.
Neben den Kopfhörern mussten die Schalter für die Sprachwahl installiert werden. Hinzu kamen vier Kabinen für die Simultanübersetzerinnen und -übersetzer. Jede dolmetschende Kabine bekam ein Mikrofon für Nachfragen und Leitungen zum Mikrofon der Angeklagten, denen über zwei Lampen signalisiert werden konnte, dass sie langsamer oder lauter sprechen sollen oder einen Satz wiederholen müssen.
(Bild: United States Holocaust Memorial Museum Collection, Gift of the IBM Corporation)
Dieselben Verbindungen gingen zu den vier Mikrofonen der Richter. Schließlich gab es noch ein "mobiles" drahtgebundenes Mikrofon für die Schlussplädoyers der Angeklagten. Ein IBM-Techniker und ein Fernmelder überwachten jeweils die Anlage während der gesamten Prozesse. Verschiedene Videos zur Nutzung von Kopfhörer und Kanäle sowie zur Erläuterung der Saal-Situation wurden zur Dokumentation produziert.
Hunderte Dolmetscher im Bewerbungsprozess
Ungleich schwieriger gestaltete sich die Auswahl der Simultandolmetscherinnen und -dolmetscher. Léon Dostert und sein internationales Team testeten über 800 Personen, die sich gemeldet hatten oder -- im Fall der Russisch sprechenden -- von der Sowjetunion abkommandiert wurden. Für jede der vier Sprachen wurden jeweils drei Zwölfergruppen gebildet. Von jeder Gruppe arbeiteten drei in der Kabine mit Sicht auf die Angeklagten, drei hörten im Nebenraum zu und drei erholten sich im Gebäude. Eine weitere Zwölferschicht hatte Bereitschaft, die dritte einen freien Tag.
Zu jeder Gruppe gehörten menschliche Monitore, die die Spezialbegriffe kontrollierten. "Damit das Kriegsverbrechertribunal nicht an Sprachlosigkeit und Sprachverwirrung scheitert, haben Dolmetscher dafür zu sorgen, dass die tiefgreifende Unübersetzbarkeit des Holocaust gar nicht erst wahrnehmbar wird", heißt es in einem Artikel zur Geschichte des Simultanübersetzens.
(Bild: OMGUS Germany, gemeinfrei)
Trotz aller Widrigkeiten (und einiger Kritik von britischer Seite über amerikanische Formulierungen) erfuhren Technik und alle Beteiligten höchstes Lob. Im Standardwerk über die Nürnberger Prozesse ist "von einer Art Pfingstwunder" die Rede. Alle Angeklagten und die meisten Zeugen konnten in ihrer Muttersprache sprechen. Abraham Sutzkever, einer von nur zwei jüdischen Überlebenden, die in Nürnberg auftraten, musste Russisch statt Jiddisch sprechen.
IBM konnte sein Translator System unter anderem an die Vereinten Nationen verkaufen. Ein IBM-System wurde auch beim internationalen Militärtribunal in Tokio eingesetzt, wobei dort allerdings angesichts der vielen Sprachen die Konsekutivübersetzung bevorzugt zum Einsatz kam. Der zentrale Prozess dauerte mehr als doppelt so lang wie sein Nürnberger Gegenpart mit den Hauptkriegsverbrechern. Léon Dostert wurde Gründungsprofessor des Instituts für Sprachen und Linguistik an der Georgetown University und setzte dort seine Zusammenarbeit mit IBM fort.
Im Jahre 1954 stellte er den Computer IBM 701 vor, der das Zeitalter der maschinellen Übersetzung aus dem Russischen ins Englische einläutete.
(mawi)