Zahlen, bitte! Vom Klettern in der vierten Dimension

Der britische Mathematiker Charles Howard Hinton brachte den Menschen die vierte Dimension mit einem praktischen Ansatz näher: über ein Klettergerüst.

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Aufmacherbild Zahlen, bitte

(Bild: Heise Medien)

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Von
  • Detlef Borchers
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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Ein Tesserakt ist ein vierdimensionaler Würfel, benannt und beschrieben vom britischen Mathematiker Charles Howard Hinton in seinem in Japan verfassten Buch "The Fourth Dimension", das 1906 in Großbritannien erschien. Hinton versuchte in ihm, ganz ohne die heutigen modernen rotierenden 3D-Gitterwürfel, seine Leserschaft von der denkbaren Möglichkeit einer vierten Dimension zu überzeugen, und fand mit einem Klettergerüst einen praktischen Ansatz.

Zahlen, bitte!
Bitte Zahlen

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblĂĽffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natĂĽrlich der Mathematik vor.

Schon im Namen, zusammengesetzt aus dem griechischen téssara (vier) und aktis (Strahl) und dem lateinischen tessera (Würfel), ist sein Konzept der vierten Dimension als dynamischer Raum erkennbar. Hinton war überzeugt, dass die Menschen die für ihn existente vierte Dimension deshalb schlecht verstehen, weil sie sich noch nicht einmal in drei Dimensionen richtig bewegen können.

Einzig die Schiffskapitäne auf den Weltmeeren, die in Raum und Zeit navigieren müssen, hatten für den wackeren Briten die Fähigkeit, wirklich dreidimensional denken zu können. Analog zur Schiffs-Sprache wollte er eine Raum-Sprache entwickeln.

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Charles Howard Hinton befasste sich früh mit der Didaktik der Mathematik. Während er am College studierte, unterrichtete er bereits Mathematik an einer Schule. Diese Ausbildung rettete ihn vor dem Ruin, als er wegen Bigamie ins Gefängnis kam und sein Lehramt verlor. Die Mehrehe, die sein Vater James Hinton in seinen Schriften zur Rolle der Frau theoretisch predigte, konnte im viktorianischen England nur mit gefälschten Papieren und Namen praktiziert werden.

Immerhin fand sich eine britische Schule in Japan, die Hinton mit seiner Erstfrau Mary Ellen Boole als Lehrer akzeptierte. Mary war eine der Töchter des Begründers der Booleschen Algebra. Eine weitere Boole-Tochter, Alicia Boole Stott, die als Mathematikerin und Schülerin von Hinton die regulären Polyeder in vier Dimensionen klassifizierte, war der Anker, über den Hinton seine Schriften in Großbritannien publizieren konnte. Das gilt auch für das einflussreiche Buch "The Fourth Dimension", das im Einbandumschlag die ersten Tessaracts zeigt.

Beispiele fĂĽr Tessaracts im Umschlug um Hintons Buch von 1904

(Bild: Charles Howard Hinton - The Fourth Dimension (1904))

Die vierte Dimension war seinerzeit ohnehin ein Renner. Wie einflussreich seine Schrift über Würfel als Annäherung an die vierte Dimension war, zeigen einige ausgewählte Beispiele. Neuzeitlich ist Christopher Nolans SF-Film Interstellar wohl das beste Beispiel. Architektonisch ist der Trumm La Grande Arche de la Défense ein direkter Abkömmling von Hintons Buch, malerisch sei Salvador Dalis Corpus Hypercubus, der Christus an ein Hinton-Kreuz nagelte. (In den USA ersetzte der Begriff Hypercube den Tesseract, nachdem der große Martin Gardiner in seinem "Mathematic Carnival" 1965 über Hinton berichtet hatte.)

Literarisch setzte ihm Jorge Luis Borges ein Denkmal mit einem Vorwort zu Hintons posthum veröffentlichten "Wissenschaftlichen Erzählungen", einer Art früher Science-Fiction. Charles Howard Hinton starb unerwartet im Jahr 1907 auf einem Bankett an einer Gehirnblutung, nachdem er einen Toast auf die Rolle weiblicher Philosophen ausgebracht hatte.

Vierdimensionale Körpersimulation über den Tessarakt, einer Drehung der Schnittebene durch einen 4D-Würfel.

(Bild: JasonHise)

Doch was ist mit den Menschen, die nicht einmal dreidimensional alles auf die Reihe und um die Ecke oder die Höhe kriegen? Sie müssen trainiert werden, um in die vierte Dimension einsteigen zu können. In seiner Freizeit baute Hinton in Japan ein großes Gerüst aus farbig markierten Bambushölzern und rief dann die X/Y/Z-Koordinaten aus, zu denen sich seine vier Kinder aus erster Ehe bewegen mussten. Die oder der Erste bekamen eine Belohnung, doch Hinton notierte in seinen Beobachtungen, dass seine Kinder auch ohne Wettbewerb in seinen Koordinaten herumkletterten und "wie die Affen" kopfüber baumelten.

Im Jahre 1920 erinnerte sich sein Sohn Sebastian anlässlich einer Party an das Turnen in dem Bambusgerüst. Als ausgefuchster Patentanwalt schaffte er es, diese recht einfache Konstruktion als Jungle Gym zu patentieren. Den immensen Erfolg erlebte er nicht mehr. Schlicht Klettergerüst benannt, verbreitete sich das Gestänge in der ganzen Welt. Selbst als Victor Papanek begann, den Spielplatz neu zu erfinden, ließ er die Klettergerüste stehen.

Familie Hinton ist bis heute in der Wissenschaft wegweisend. Die Tochter des unglücklichen Patentierers der Gerüste war Joan Hinton. Sie arbeitete am Manhattan Project am Bau der Atombombe, bis sie nach China umsiedelte und überzeugte Maoistin wurde. Das vorläufige Ende markiert der Nobelpreis für Physik für Geoffrey Hinton, dessen Ururgroßvater James Hinton in einer anderen Linie auch der Vater von Charles Hinton war.

(mawi)