Das Ende des Gopherspace

Ein Spaziergang mit 1200 Baud durch die Frühgeschichte der Netzneutralität. Oder: Wie eine Universität einmal Lizenzgebühren für die komfortable Internetnutzung verlangen wollte.

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Von
  • Peter Glaser

In der nicht mehr ganz so frühen Frühzeit des Netzes Anfang der neunziger Jahre entstanden erste Orientierungssysteme, die den durch die Datenwälder irrenden Netz-Neugierigen dabei helfen sollten, in den zunehmend verzweigten weltweiten Informationsstrukturen Dinge zu suchen und möglicherweise auch zu finden. Vor allem sollten sie einem beim Flanieren durch die Leitungen und Speicherbänke etwas wie digitale Wanderwegmarkierungen (man beachte bei dem Link den Autorenhinweis) an die Hand geben.

Neben der auf Systematik ausgerichteten Informationssuche von Forschern, Doktoranden und Ingenieuren war es eher eine Mischung aus Abenteuerlust und Stöberbedürfnis, die den Großteil der neu hinzuströmenden Netzbevölkerung in die gleichermaßen verheißungsvollen wie rätselhaften Regionen trieb, die sich im Inneren von Computern befinden. Da war Gopher genau das Richtige.

Wenn man die E-Mail-Adresse einer Netzbekanntschaft verschlampt hatte, die neueste Ausgabe der Chalisti lesen wollte oder irgendeine Datei oder ein Programm zu irgendeinem Thema auf irgendeinem der unübersichtlich verstreuten Archive im Netz suchte, bot sich der neue Dienst als eine Art Netz-Inhaltsverzeichnis an. Der Gopher – ein Ziesel – ist das Wappentier der Universität von Minnesota. Seine Spezialität ist ein unglaubliches Labyrinth an Gängen, in denen nur er sich zurecht findet. Das gleichnamige Programm, das 1990 von einem Team unter der Leitung von Mark P. McCahill an der Universität geschrieben wurde, stellte ein Internet-Verweissystem zur Verfügung, das menügesteuertes Suchen ermöglichte. Man konnte das Netz durchblättern wie einen unendlich verschachtelten Karteikasten. Das war etwas Neues. Der Gopherspace war geboren.

Ob Gopher seinen Namen tatsächlich nach dem Erdhörnchen erhalten hat, ist strittig. Zur Namenswahl gibt es auch noch andere Theorien. Manche sagen, "gopher" stehe lautmalerisch für "Go for it" oder "Go-For" (was soviel wie "Laufbursche" heißt). Ehe es den digitalen Gopher gab, hatte es das File Transfer Protokoll (FTP) gegeben. FTP war umständlich, man musste sich auf einem Rechner im Netz einloggen, und man musste über Konsolenbefehle die richtige Verzeichnisebene anpeilen, um Dateien zu finden. Gopher war unumständlich. Anders als Web-Seiten, deren Erscheinungsbild jeweils programmiert werden muss, erzeugte der Gopher aus den Dateien in einem angewählten Verzeichnis automatisch ein Menü.

Mitte der 90er Jahre stand der Gopherspace in seiner Blüte. Bei Modem-Geschwindigkeiten, die sich heute anfühlen, als würde man seine Bits in Eimerchen zur Gegenstelle tragen, hatte der pure, textbasierte Gopher einen entscheidenden Vorteil: Geschwindigkeit. Während Webseiten mit Bildern oft minutenlang brauchten, um sich nach und nach auf den Bildschirm zu bequemen, war das Gopher-Menü, zack, da. Wer über einen Internetzugang verfügte, ob Universität oder Behörde, hatte auch einen Gopher-Server und stellte darüber der Allgemeinheit Informationen aus den verschiedensten Bereichen zur Verfügung.

Was manche heute als "Geburtsfehler des Internet" sehen wollen, nämlich die uneigennützige Verbreitung von Information, ist alles andere als ein Fehler. In einem wesentlichen Punkt unterscheidet das Internet sich tatsächlich von den anderen Massenmedien, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat: Anders als Radio, Fernsehen oder die moderne Presse war das Netz das erste Massenmedium, das nicht aus einem kommerziellen Zusammenhang hervorgegangen ist. Es ist in der akademischen Welt herangewachsen, in der man aus gutem Grund ein reserviertes Verhältnis zu kommerziellen Aktivitäten hat. Denn Forschung und Wissenschaft wollen ihre Erkenntnisse unabhängig von Geschäftsinteressen gewinnen.

Ein anderes aufkommendes Hilfsmittel zur Koordination wissenschaftlicher Arbeiten wurde dem Gopherspace schließlich zum Verhängnis: das WWW. Web-Seiten fühlten sich einfach besser an als die spartanischen Gopher-Listen. Ausschlaggebend für den Niedergang des Gopher-Service aber war, dass die Universität von Minnesota sich 1993 dazu entschloss, für die – kommerzielle – Nutzung von Gopher Lizenzgebühren zu erheben. Die zu dieser Zeit vorherrschende Philosophie war, dass es sich beim Internet um eine öffentliche Einrichtung handelt, die zwar an Universitäten entwickelt worden war, aber der Allgemeinheit gehören sollte. Einen Internet-Dienst kostenpflichtig zu machen, galt als krasser Kommerzialismus. Was nun geschah, war dementsprechend wenig verwunderlich: Fast über Nacht begannen die Gopher-Server zu schwinden; heute gibt es $(LEhttp://gopher.floodgap.com/gopher/:nur noch ein paar wenige von ihnen.

Der Dienst starb aus – und mit ihm ein paar weitere nette Namensspiele. In der grauen Vorzeit mit ihren FTP-Umständlichkeiten war auch Archie entwickelt worden, eine Suchmaschine speziell für FTP-Archive, abgekürzt aus dem englischen Wort für archivieren – "archive". Später gab es dann eine Weiterentwicklung namens Veronica ("Very Easy Rodent-Oriented Netwide Index to Computerized Archives"), die für die Suche im Gopherspace maßgeschneidert war. Für Comic-Freunde sind die beiden alte Bekannte. Archie Andrews, ewiger Teenager und seit 1941 beliebte US-Comicfigur, war seit jeher hin und her gerissen zwischen seinen Freundinnen Betty und Veronica. Im Mai 2009 wurde im Blog des Verlags Archie Comics bekanntgegeben, dass Archie sich nach 70 Jahren für eine der beiden entscheiden würde. Der Gopher hätte das sicher prima gefunden. (bsc)