Zahlen, bitte! Der 8-Minuten-Telefontakt gegen den Netzkollaps

Um Netzüberlastung durch Dauernutzer zu vermeiden, führte die Deutsche Post den 8-Minuten-Takt für Ortsgespräche ein – Grundstein für spätere Tarifdschungel.

vorlesen Druckansicht 83 Kommentare lesen
Aufmacherbild Zahlen, bitte
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis
close notice

This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Schüler erledigen gemeinsam ihre Hausarbeiten über das Netz, Schachspieler nutzen es für ihre Partien, Unternehmen haben dauerhaften Kontakt von ihrem Hauptstandort zu den Stadtrandfilialen und verzichten dank der Netzverbindung auf Zustellboten. "Na und, was ist daran neu?", mag man sich denken. Nun, die Beschreibung stammt aus dem Jahre 1977, als es in Westdeutschland keine Zeitbegrenzung für Ortsgespräche gab und an das Internet noch gar nicht zu denken war.

Das zeitlich unbegrenzte Gespräch kostete seinerzeit 23 Pfennig und war unterwegs noch billiger: in der Telefonzelle genügten zwei Groschen (20 Pfennig). Die Deutsche Bundespost hatte 1971 mit dem Slogan "Ruf doch mal an!" der Werbeagentur Lintas einen Run auf den Telefonanschluss ausgelöst und musste nun mit den Folgen kämpfen. Der "Spiegel" beschrieb die Gefahr, die durch Überlastung durch teure Telekopierer drohte: "Ganze Papierstapel können für 23 Pfennige übermittelt werden – bei freilich enormer Belastung der Netzkapazität." Über 3000 Maschinen dieser Art seien bereits im Einsatz und Zustände wie in den USA und Japan mit mehr als 100.000 Geräten könnten das Ende des Telefonierens für private Anwender bedeuten, weil für sie nur das Besetztzeichen zu hören sein wird. Die Lösung war einfach: Das unbegrenzte Telefonieren im Ort musste ein Ende haben.

Zahlen, bitte!
Bitte Zahlen

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblĂĽffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natĂĽrlich der Mathematik vor.

Bereits Anfang 1976 hatte der damalige Bundespostminister Kurt Gscheidle (SPD) einen Zeittakt von 4 Minuten für ein Ortsgespräch vorgeschlagen. Gleichzeitig sollte die Definition eines Ortes durch die Vorwahl zu größeren Nahbereichen ersetzt werden. Denn die Gemeindereform hatte dazu geführt, dass etliche Bürger ihre Ämter nur noch per Ferngespräch erreichen konnten. Gscheidles Pläne wurden von Bundeskanzler Schmidt angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl sofort abgewürgt. Ähnliches passierte bereits vor der Bundestagswahl 1964, als die geplante Erhöhung der Zeittakteinheit auf 20 Pfennig zurückgenommen wurde und das Telefonieren pro Einheit wieder 18 Pfennig kostete. So berichtete der Spiegel über Versuche mit dem Achtminutentakt in sechs Testregionen.

Als Haus-Telefonanschlüsse nicht üblich, und der Telefontakt in Ortsgesprächen noch nicht eingeführt war, waren in Telefonzellen diese Schilder verbreitet.

(Bild: Ghormon, CC BY-SA 4.0)

Dennoch war der Unmut groß, als 1980 der Zeittakt von 8 Minuten für Ortsgespräche eingeführt wurde. Da half es auch nicht, dass die erwähnte Post-Werbeagentur vorab den unschlagbaren Namen "Mondscheintarif" für Nachtgespräche einführte, bei dem der Zeitslot auf 12 Minuten im Ortsbereich erweitert wurde. Auf Flohmärkten kann man heute noch gelegentlich die Achtminuten-Eieruhren finden, die damals populär waren; es gibt auch Geschichten, dass man danach lieber wieder aus der Telefonzelle telefonierte, um Geld zu sparen.

Videos by heise

Auf die gerade im Entstehen begriffene Szene der Computerbastler und -Vernetzer hatte der Zeittakt einen kuriosen Effekt. Während die Entwicklung der Mailboxen in Westdeutschland recht schleppend voranging, entstand in Westberlin eine rege Mailboxszene, weil dort das ungetaktete Ortsgespräch bis zum 31. August 1992 weiterhin existierte. Man wollte den Westberlinern mit dem ohnehin schwierigen Telefonkontakt nach "drüben" (21,5 Millionen Telefonanschlüsse West vs. 2,7 Millionen Ost im Jahre 1978) nicht auch noch das stadtweite Telefonieren mit Takten verteuern.

Langsam, aber beharrlich entstanden unterdessen Verbundsysteme wie Fidonet, Mausnet, C-Net und eben Geonet – letzteres wohl das erste kommerzielle Netz, gegründet vom ehemaligen Manager des Automationsspezialisten Diebold, Günther Leue. Den Härteren der Datenreisenden machte bald ein anderer Umstand zu schaffen, die Umstellung beim Datex-P Dienst. In der Datenschleuder vom Dezember 1986 (PDF-Datei) zeigte sich der Chaos Computer Club nicht sonderlich amüsiert darüber, dass die entfernungsunabhängigen Gebühren beim Datex-P-Dienst der Bundespost durch ein teureres Zeittakt-Modell ersetzt wurden.

Das FeTAp 611-2 - Standardtelefon der Deutschen Bundespost, wie es bis in die 1980er gebaut wurde und millionenfach in deutschen Wohnungen stand. Bis zur Privatisierung der Deutschen Post 1995 wurde es an den Anschlussinhaber als Standardtelefon vermietet.

(Bild: Felix Winkelnkemper, CC BY-SA 4.0)

Schlagartig kostete der Zugriff auf eine Network-User-Adress (NUA) dem Netzwerkuser (NUI) richtig Geld. Tagsüber lag der Zeittakt bei 50 Sekunden, in der Nacht bei 75 Sekunden. Zuvor wählte der Verfasser dieser Zeilen seine bevorzugte NUA "Compuserve" für 80 Pfennig ein, danach war Schluss mit den Gebühren -- die bei Compuserve natürlich weiterhin minütlich aufliefen, weshalb man sogenannte 3rd-pass Reader verwendete, aber das ist eine andere Geschichte.

Bekanntlich wiederholt sich die Geschichte – mitunter als Farce. Die Bundespost wurde aufgeteilt und privatisiert, die Deutsche Telekom entstand, mit vielen neuen Angeboten, wie etwa die der Tochterfirma T-Com, die versuchte, das bis dahin zäh fließende Geschäft mit dem hauseigenen BTX-System in Schwung zu bringen. Das gelang der Telekom mit einer einzigen CD, die der hauseigenen Zeitschrift T-Com beigelegt wurde. Mit ihr konnten die damaligen Btx-Nutzer im August 1995 den Browser Netscape installieren, was dem Internet-Zugang in Deutschland einen gewaltigen Aufschwung verschaffte.

Nutzer außerhalb dieser ganz speziellen Komfortzone fühlten sich indes veräppelt und beschwerten sich über die neuen Entgeld-Tarife. Die Antwort auf eine Beschwerde lässt tief blicken: "In der Tat sind Sie als Nutzer von Online-Diensten in besonderer Art und Weise von der Telefontarifstrukturreform betroffen, da hier weder das typische Nachfrageverhalten eines Geschäftskunden noch das eines "normalen" Privatkunden vorliegt. Uns ist bewußt, daß gerade Online-Nutzer, die bisher lang andauernde Verbindungen zu einer Datenbank hergestellt haben, bei unverändertem Nutzungsverhalten durch die neuen Tarife mit Verteuerungen rechnen müssen."

Das Internet wird hier, ganz im Stil der Btx-Technik, als Verbindung mit einer Datenbank gesehen, die Surferinnen und Surfer aber als Minderheit: "Richtig ist, daß für Kunden, die fast ausschließlich lange Ortsgespräche führen, die Telefonrechnungen ab Anfang 1996 höher ausfallen. Es handelt sich dabei um eine ausgesprochene Minderheit. Das Tarifgenehmigungsverfahren ist und kann aber nicht auf die Förderung der – wenn auch verständlichen – Belange des einzelnen Kunden in seinem individuellen Telefonverhalten gerichtet."

Natürlich entwickelten die Planer eine post-gerechte Lösung für die Minderheit. Sie hieß "City Plus": für 24 DM sollte man 400 Einheiten à 90 Sekunden kaufen, mit denen man tagsüber im Ortsbereich 10 Stunden lang mit fünf vorab definierten Nummern verbunden werden konnte, etwa mit dem Anschluss eines Internet-Providers vor Ort. Mit City Plus 600 und City Plus 800 wurde das Angebot später ausgebaut. Wer tagsüber nicht surfen konnte oder wollte, konnte sich für 5 DM City Weekend bestellen und abends für 1,80 DM die Stunde im Ortsbereich im Internet einwählen. Sind Sie noch mitgekommen? Die sehr norddeutsche NDR2-Satire Stenkelfeld brachte den damaligen Telefontakt-Tarif-Wahnsinn auf den Punkt.

Und das Internet? Wie sagte es noch Ron Sommer, der Chef-Privatisierer der Telekom im Jahre 1995 zum Start von T-Online, ehemals Btx: "Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.“

(mawi)