Hysterie um „Street View“

Kaum ein Thema beherrscht die Medien derzeit mehr als der umstrittene Google-Dienst „Street View“. Der Berliner Fachanwalt Kay Wagner erläutert, warum er die Debatte für völlig überzogen und eine Gesetzesänderung für fatal hält.

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Von
  • Kay Wagner
Inhaltsverzeichnis

Die bizarre deutsche Debatte über den Google-Dienst „Street View“ offenbart einmal mehr die im Ausland staunend zur Kenntnis genommene „German Angst“ vor technischen Innovationen. Politikern jeder Couleur und Verbraucherschützern ist kein Argument zu einfältig, um „Street View“ zu verteufeln. Unter Ausklammerung der Vorteile des Dienstes werden genüsslich Horrorszenarien ausgebreitet. Die Rede ist von totaler Überwachung, von Stasi-Methoden und von Räuberbanden, die mit „Street View“ lohnende Objekte ausspähen und ihre Raubzüge planen. Deutschland könnte sich mit seiner ritualisierten Ablehnung technischer Neuerungen mittelfristig selbst ins Abseits stellen.

Schon jetzt ist etwa im Onlinehandel zu beobachten, dass sich die exzessive Regulierung mit ihren komplexen Informationspflichten und Widerrufsrechten investitionshemmend auswirkt und viele Anbieter, beispielsweise der Mediamarkt, von vornherein auf Onlineshops verzichten. Nicht von der Hand zu weisen ist daher die im Ausland zu hörende Sorge, dass Deutschland durch die von der Bundesregierung angekündigte Erweiterung des Datenschutzes auf sogenannte „Geodaten“ auf der Karte der Zukunft zur „Terra Incognita“ wird (so das „Wall Street Journal“ vom 12. August 2010).

„Street View“, „sightwalk“ und Co. verletzen weder Persönlichkeitsrechte noch den Datenschutz und eine Erweiterung des Datenschutzes auf „Geodienste“ wäre nicht sinnvoll.

Es muss zunächst unterschieden werden zwischen den Rechten zufällig abgelichteter Personen und denjenigen der Mieter oder Eigentümer der abgebildeten Gebäude. Die Bildnisse der abgelichteten Personen, gleich ob Mieter oder Passanten, sind durch das Kunsturheberrechtsgesetz geschützt, das Inhalt und Umfang des „Rechts am eigenen Bild“ regelt. Grundsätzlich ist die Veröffentlichung von Bildnissen einer Person demnach nur mit Zustimmung des Abgebildeten zulässig. Die Gesichter der zufällig abgelichteten Personen werden jedoch automatisiert geblurt („verpixelt“) und damit anonymisiert. Dies entspricht der im Medienrecht gängigen Praxis zur Vermeidung einer Verletzung von Bildrechten.

Selbst wenn die Technik in Einzelfällen versagen sollte und Gesichter nicht vollständig verpixelt sind, greift zugunsten von „Street View“ eine Ausnahme des Kunsturheberrechtsgesetzes. Wenn eine Person auf einem Bild nur als Beiwerk neben einer Landschaft oder sonstigen Örtlichkeit erscheint, bedarf die Veröffentlichung keiner Zustimmung des Abgelichteten. Im Hinblick auf die Bildrechte der zufällig abgebildeten Personen ist „Street View“ also nicht anders zu behandeln als ein beliebiges Zeitungsbild einer belebten Straße.

Den Schwerpunkt der öffentlichen Diskussion bilden deshalb auch die Rechte der Nutzer beziehungsweise Eigentümer der abgelichteten Gebäude. Google hat den Gebäudenutzern ein umfassendes Widerspruchsrecht eingeräumt und sich bereit erklärt, selbst auf den Widerspruch eines einzelnen Mieters jeweils das gesamte Gebäude aus dem Straßenpanorama herauszunehmen. Dieses Entgegenkommen des Unternehmens war rechtlich nicht geboten, da die Persönlichkeitsrechte der Nutzer durch das Abbilden von Gebäudeansichten nicht verletzt werden.

Googles rechtlich nicht erforderliches Widerspruchsrecht für Betroffene spielt lediglich der Konkurrenz (hier „sightwalk“) in die Hände und gefährdet die eigenen Dienste.

Das aus dem Grundrecht der Menschenwürde abgeleitete Persönlichkeitsrecht gewährleistet den Schutz des Einzelnen vor ungewünschter Beobachtung durch den Staat oder Privatunternehmen. Inhalt und Grenzen des Persönlichkeitsrechts bestimmen Einzelgesetze wie das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) sowie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes. Wie jedes andere Grundrecht gilt auch das Persönlichkeitsrecht nicht unbeschränkt, sondern findet seine Grenzen in den Rechten Dritter, mit denen es in Wechselwirkung steht. Wegen dieser Wechselwirkung wird die Persönlichkeit auch nicht in allen Bereichen mit gleicher Intensität geschützt. Die Rechtsprechung differenziert vielmehr zwischen drei Sphären mit unterschiedlicher Schutzwürdigkeit.

Die den Kern der Persönlichkeit schützende Intimsphäre ist weitestgehend unantastbar. Etwas weniger schutzwürdig ist demgegenüber der innere häusliche Bereich, die sogenannte Privatsphäre. Den geringsten Schutz genießt die Sozialsphäre, die den „Außenauftritt“ der Person betrifft, also ihre Interaktion mit der Außenwelt. Ausschließlich diese Sozialsphäre ist durch „Street View“ tangiert, weil der Dienst lediglich die Außenansichten von Gebäuden zeigt, die für jeden vor Ort anwesenden Betrachter offen einsehbar sind. „Street View“ beeinträchtigt daher allenfalls den am wenigsten schutzwürdigen Bereich des Persönlichkeitsrechts.

Im Zusammenhang mit den Unterlassungs- und Schadensersatzforderungen diverser Prominenter war die Ablichtung des privaten Umfeldes von Personen schon häufig Gegenstand höchstrichterlicher Urteile. Grundsätzlich erstreckt sich das Persönlichkeitsrecht zwar auch auf Abbildungen des räumlich-gegenständlichen Bereichs der Privatsphäre. Die Veröffentlichung von Bildnissen der räumlichen Privatsphäre sind stets dann verboten, wenn der Betroffene nach den konkreten Gegebenheiten die begründete und für Dritte erkennbare Erwartung hegen darf, dass seine privaten Verhältnisse dem Blick in der Öffentlichkeit entzogen bleiben und von ihr nicht zur Kenntnis genommen werden (vgl. BVerfG Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2000, 1021).

Wenn ein privates Anwesen aber für jedermann von öffentlich zugänglichen Stellen aus einsehbar ist, kann der Nutzer nach ständiger Rechtsprechung nicht erwarten, dass das Gebäude den Blicken der Allgemeinheit entzogen bleibt. Eine Persönlichkeitsrechtsverletzung ist also ausgeschlossen, wenn die Abbildung des Anwesens nur das wiedergibt, was auch für den vor Ort anwesenden Betrachter ohne Weiteres sichtbar ist (vgl. BVerfG NJW 2006, 2836; BGH NJW 1999, 3339; BGH NJW 1989, 2251).

Auch das vom Bundesverfassungsgericht im „Volkszählungsurteil“ entwickelte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird durch „Street View“ nicht verletzt. Demnach kann jeder selbst darüber entscheiden, ob, wann und wie seine persönlichen Daten in die Öffentlichkeit gebracht werden. Ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Rechts kommt allerdings nicht in Betracht, wenn die Daten – wie bei „Street View“ – anonym bleiben und nicht gestatten, einen Personenbezug herzustellen (vgl. BVerfG NJW 2008, 1505). Auf diese Rechtsprechung kann sich Google berufen, da „Street View“ ebenfalls nur die der Öffentlichkeit zugewandten Gebäudeansichten zeigt. Die Annahme einer Persönlichkeitsrechtsverletzung durch diesen Geodienst ist weit hergeholt.

Es ist einigermaßen verwunderlich, dass sich die öffentliche Empörung ausgerechnet an „Street View“ entzündet, während Dienste wie „Google Earth“ oder „bing maps“ von Microsoft bereits seit Jahren den Abruf von Satellitenaufnahmen und Luftbildern von Liegenschaften bieten, ohne dass dies auf nennenswerten Widerstand gestoßen wäre. Offenbar will die Politik bei „Street View“ nachholen, was sie bei „Google Earth“ et cetera verschlafen hat.

„Street View“ verletzt auch nicht das Bundesdatenschutzgesetz. Es ist zunächst schon zweifelhaft, ob Hausansichten als „personenbezogene Daten“ anzusehen sind, das BDSG also anwendbar ist. Der Dienst zeigt lediglich Gebäudeansichten und benennt nicht die Gebäudenutzer. Zweck des Datenschutzrechts ist der Schutz des Einzelnen vor einem unzulässigen Umgang mit „personenbezogenen Daten“. Der Begriff der personenbezogenen Daten ist in der EU-Datenschutzrichtlinie (95/46/EG) gesetzlich definiert und umfasst „alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person („betroffene Personen“); als bestimmbar wird eine Person angesehen, die direkt oder indirekt identifiziert werden kann (…)“.

Wesentliches Merkmal ist also die Verknüpfung einer Information mit einer bestimmten Person. Der Begriff der Bestimmbarkeit ist dabei objektiv zu verstehen. Anhand der Straßenpanoramen ist es nicht ohne Weiteres möglich, die aktuellen Bewohner oder gar Eigentümer der abgebildeten Gebäude zu identifizieren.

Selbst wenn man einmal unterstellte, dass die Hausansichten als personenbezogene Daten zu qualifizieren sind, würde zugunsten von Google die gesetzliche Ausnahmeregelung des § 29 Abs. 1 BDSG greifen (so auch das Landgericht Köln zu www.bilderbuch-koeln.de, Urteil vom 13. Januar 2010). Nach dieser zugunsten von Adresshandel und Auskunfteien eingeführten Privilegierung ist das geschäftsmäßige Erheben, Speichern, Verändern oder Nutzen personenbezogener Daten zum Zweck der Übermittlung zulässig, wenn die Daten aus allgemein zugänglichen Quellen entnommen werden können und kein Grund zu der Annahme besteht, dass der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Erhebung, Speicherung oder Veränderung hat. Auf diese Regelung könnte sich auch Google berufen. Weil Persönlichkeitsrechte durch „Street View“ nicht verletzt werden, ist ein schutzwürdiges Interesse des Mieters am Ausschluss der Datennutzung nicht ersichtlich.

Auch die Bundesregierung hat mittlerweile erkannt, dass das geltende Recht keine Handhabe gegen „Street View“ bietet. Deshalb kündigten die Verantwortlichen jetzt eine kurzfristige Gesetzesänderung mit dem Ziel der Erweiterung des Datenschutzes auf „Geodaten“ an. Es ist absehbar, dass ein solcher Schnellschuss das bestehende datenschutzrechtliche Chaos noch vergrößert und mehr Probleme schafft als beseitigt. Zum einen ist der Begriff der „Geodaten“ inhaltlich schwer zu fassen. Sollten künftig tatsächlich auch Bilder von Gebäuden dem Datenschutz unterliegen, träfe dies nicht nur „Street View“, sondern ebenso Zeitungen und Zeitschriften, die Herausgeber von Bildbänden, Stadtführern, Postkartenhersteller, aber auch Fernsehsender, Hersteller von Navigationssoftware und so weiter.

Der diskutierte generelle Erlaubnisvorbehalt würde Dienste wie „Street View“ schließlich vollständig abwürgen. Zum einen wäre es letztlich unmöglich, von 80 Millionen Gebäudenutzern eine schriftliche Einwilligungserklärung zu erhalten. Hinzu käme ein bunter Strauß von Einzelproblemen: Was geschieht bei uneinheitlichem Votum der Nutzer eines Gebäudes? Wer muss einwilligen, der Nutzer zum Zeitpunkt der Aufnahme durch das Kamerafahrzeug oder der aktuelle Nutzer oder beide? Was gilt bei gewerblich genutzten Gebäuden, was bei öffentlichen Gebäuden? Folge eines Einwilligungsvorbehaltes wäre ohne Zweifel, dass Geodienste in Deutschland nicht mehr angeboten würden.

Ferner würde das Wesen des Datenschutzes durch einen Verzicht auf das Anwendungserfordernis der Personenbezogenheit grundlegend geändert. Eine Ausweitung des Datenschutzes auf anonyme Informationen wäre unvereinbar mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in der Datenschutzrichtlinie und der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bei der Nutzung anonymer Daten bisher stets verneint hat.

Mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs des Gesetzes müsste der Gesetzgeber schließlich auch die aktuellen gesetzlichen Ausnahmen in §§ 28, 29 BDSG überarbeiten und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen weitgehend aufheben, weil die Erweiterung des Anwendungsbereichs anderenfalls ins Leere liefe. Im Lichte des Gleichbehandlungsgrundsatzes wäre nicht plausibel zu erklären, weshalb der Adresshandel zur Nutzung, Verwertung und Weitergabe nicht anonymisierter Daten (Namen, Altersangaben, Konsumprofile, Adressen, Bonitätsangaben etc.) berechtigt bleiben soll, wenn man den Anbietern von „Geodiensten“ wie Google nicht einmal die Veröffentlichung anonymer Hausfassaden gestattet.

Google hat sich vermutlich keinen Gefallen damit getan, unter dem öffentlichen Druck den Gebäudenutzern ein rechtlich nicht gebotenes Widerspruchsrecht einzuräumen. Einerseits werden durch die Widersprüche ärgerliche Lücken in den Straßenpanoramen entstehen. Von diesem Attraktivitätsverlust dürften vor allem Konkurrenzdienste wie „sightwalk“ und „streetside“ profitieren, die im Medienrummel um „Street View“ weitgehend unbeachtet geblieben sind.

Das leichtfertig eingeräumte Widerspruchsrecht wird ferner zu einer Prozesswelle gegen Google führen. In Anbetracht der erwarteten Vielzahl von Widersprüchen sind Fehler bei der Bearbeitung und Herausnahme der Gebäude kaum zu vermeiden. In diesen Fällen dürfte den Widersprechenden ein abmahnfähiger und gegebenenfalls auch gerichtlich durchsetzbarer Unterlassungsanspruch zustehen. Ohne ein Widerspruchsrecht hätten solche Unterlassungsforderungen keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Mit seinem Widerspruchsrecht hat Google schließlich auch in Bezug auf seine anderen Dienste die „Büchse der Pandora“ geöffnet. Wenn sich das Unternehmen auf Widerspruch freiwillig bereit erklärt, Hausfassaden bei „Street View“ unkenntlich zu machen, kann es sich schwerlich weigern, auf entsprechende Aufforderung auch bei „Google Earth“ oder „Google Maps“ die betroffenen Liegenschaften zu sperren. Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, ob es in Deutschland überhaupt zur Einführung von „Street View“ kommt.

ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz. (ur)