Wettlauf mit der Zeit: System soll abgetrennte Gliedmaßen länger erhalten

Ein neues System der Medizinischen Hochschule Hannover versorgt abgetrennte Gliedmaßen außerhalb des Körpers. Das sorgt für mehr Zeit.

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Prof. Bettina Wiegmann (links) und Prof. Kirsten Haastert-Talini überprüfen am Bildschirm die Wärmedaten des Extremitäten‑Care‑Systems.

Prof. Bettina Wiegmann (links) und Prof. Kirsten Haastert-Talini überprüfen am Bildschirm die Wärmedaten des Extremitäten‑Care‑Systems.

(Bild: Karin Kaiser/MHH)

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Forscher von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) haben ein System entwickelt, das die Überlebenszeit abgetrennter Gliedmaßen deutlich verlängern und so die Chancen auf eine erfolgreiche Wiederanbringung (Replantation) erhöhen soll. Eine große Herausforderung bei einer Replantation ist die Zeit. Standardmäßig werden Amputate gekühlt, überleben so ohne Blutversorgung aber nur wenige Stunden. Oftmals müssen die schwerverletzten Patientinnen und Patienten jedoch erst stabilisiert werden, bevor eine komplexe Operation zum Wiederannähen möglich ist. Ebenso könnte es die Notwendigkeit von Prothesen verringern.

„Bis der Patient dann wieder stabil genug für eine weitere Operation ist, können manchmal sogar Tage vergehen“, erklärt Prof. Bettina Wiegmann. Sie ist Notfallmedizinerin und Fachärztin für Herzchirurgie an der MHH und arbeitet bereits seit Jahren an einem solchen System. Jetzt ist dazu die Studie „Ex‑vivo limb perfusion in military and civilian medicine: inspired by ex‑vivo organ perfusion, pioneered for traumatic limb amputation and peripheral nerve regeneration“ samt einer Anleitung in der Fachzeitschrift Military Medical Research erschienen.

Um diese kritische Zeit zu überbrücken, haben Wiegmann und Prof. Kirsten Haastert-Talini vom MHH-Institut für Neuroanatomie und Zellbiologie eine Ex-Vivo-Extremitäten-Perfusion (EVEP) entwickelt. Ähnlich wie bei Organtransplantationen wird die abgetrennte Gliedmaße an einen künstlichen Kreislauf angeschlossen und außerhalb des Körpers versorgt. „Wir haben unterschiedliche Perfusionslösungen an Großtierextremitäten getestet und über verschiedene Werte wie Blutgasanalysen, Serummarker, Wärmebildgebung und Gelenkbeweglichkeit erste Beweise gesammelt, dass unser System zuverlässig funktioniert und das Gewebe über sechs Stunden konservieren kann“, so Wiegmann.

Das EVEP-System funktioniert ähnlich einem mobilen Organ-Care-System, wie es bereits bei Herz- und Lungentransplantationen zum Einsatz kommt. Die abgetrennte Extremität wird in einer transportablen Box an eine Pumpe angeschlossen, die eine spezielle, körperwarme Nährlösung durch die Blutgefäße zirkulieren lässt. So wird das Gewebe weiterhin mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, während Stoffwechselabfallprodukte abtransportiert werden. Dies verhindert den Zelltod durch Sauerstoffmangel und erhält die Vitalität der Extremität über viele Stunden.

Weltweit wird rund um die Thematik geforscht. So konnten Forscher laut einer in der Fachzeitschrift Military Medicine veröffentlichten Studie Schweinegliedmaßen dank eines ähnlichen Systems auch nach 33 Stunden wieder erfolgreich replantieren. Dass sich die Lebensfähigkeit von Gliedmaßen verlängern lässt, zeigten Forscher bereits 2017 in einer Studie. Ihnen gelang es, Spender-Arme für eine mögliche Transplantation 24 Stunden lang außerhalb des Körpers zu versorgen.

Ein besonderes Augenmerk legt das Team auf die Regeneration der Nerven, um Spätfolgen wie Phantomschmerzen zu verhindern. „Durchtrennte Nerven im Gliedmaßenstumpf können sich verlängern und verknäulen und so Phantomschmerzen verursachen“, erklärt Haastert-Talini. Um dies zu verhindern, muss die Umgebung so vorbereitet werden, dass die Nervenfasern wieder zielgerichtet zusammenwachsen können. Dafür sind bestimmte Botenstoffe nötig, die eine Art Entzündungsreaktion auslösen. „Daher verzichten wir anders als im Organ-Care-System bei unserer Extremitäten-Perfusionslösung auf entzündungshemmende Medikamente“, sagt Haastert-Talini.

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Laut den Forscherinnen steht die Anleitung für das System jetzt: „Die Feinanpassung unseres Systems soll es dann ermöglichen, dass sich ein chirurgisches Team um den Patienten oder die Patientin kümmert und parallel dazu ein zweites Team in Ruhe die Extremität für die Replantation vorbereiten kann“, so Haastert-Talini. Der Bedarf für eine solche Technologie ist groß. „Bis zum Jahr 2050 wird die Anzahl traumatischer Amputationen laut wissenschaftlicher Studien voraussichtlich um mehr als 70 Prozent steigen“, sagt Professorin Wiegmann.

Update

Zahl in Zitat korrigiert.

(mack)