Einmal Bologna – und zurück?

Die europäischen Hochschulen befinden sich im Umbruch. Im sogenannten Bologna-Prozess entstanden neue Studiengänge mit Bachelor- und Master-Abschluss. Was in den Augen der Befürworter eine sinnvolle Neuordnung und Chance für neue didaktische Ansätze darstellt, sehen Kritiker als eine reine Sparmaßnahme oder gar als Ausverkauf der Humboldt’schen Bildungsideale.

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Von
  • Dorothee Wiegand
Inhaltsverzeichnis

Durch die 1999 in Bologna ins Leben gerufene Initiative „Europäischer Hochschulraum“ soll Europa zum „führenden wissensbasierten Wachstumsraum“ werden. Das Kernstück der Harmonisierung sind neue, gestufte Studiengänge. Ebenso wichtig wie die Änderung der Studienstruktur sind jedoch inhaltliche Aspekte, etwa eine Modularisierung durch klar voneinander getrennte Lerneinheiten mit einem bestimmten Arbeitsumfang und je einem Leistungsnachweis.

Neu ist auch die sogenannte Outcome-Orientierung. Sie bedeutet, dass Vorlesungen und Seminare künftig durch eine Beschreibung des Wissens definiert werden sollen, das ein Student aus der Lernveranstaltung mitnehmen kann. Ein weiteres Bologna-Ziel ist die „Employability“, das heißt, die Beschäftigungsfähigkeit der Studenten.

Durch kräftiges Entrümpeln sollten die neu zu gestaltenden Studiengänge leichter studierbar werden. Man hoffte, dass weniger Studenten die Hochschulen ohne einen Abschluss verlassen und die angehenden Bachelors und Masters mobiler wären als frühere Studentengenerationen. Der ehrgeizige Plan sah vor, dass bis zum Wintersemester 2010 überall nach dem neuen System studiert wird. Einzelne Fächer wie Medizin und Jura sind von der Umstellung zunächst weitgehend ausgenommen; die Ingenieurwissenschaften dagegen gehörten nach anfänglichem Zögern zu den Bologna-Musterschülern: Laut Hochschulrektorenkonferenz waren im Sommersemester 2010 insgesamt 93,7 Prozent aller technischen Studiengänge umgestellt.

Von Anfang an begleitete den Bologna-Prozess in Deutschland scharfe Kritik. Im Jubiläumsjahr bestimmt in den Ingenieurwissenschaften vor allem eine leidenschaftlich geführte Debatte um den Titel des Diplom-Ingenieurs die Diskussion. Für viele stellt der „Dipl.-Ing.“ schlicht ein Markenzeichen dar, er sei damit im Ausland ein Türöffner für deutsche Hochschulabsolventen, so die Argumente für den Erhalt des Titels. Die TU9, ein Zusammenschluss von neun großen technischen Universitäten, feierte Anfang Oktober öffentlichkeitswirksam den 111. Geburtstag des bewährten Hochschulgrades. Die zu diesem Anlass herausgebrachte Broschüre zitiert den Sprachkritiker Wolf Schneider mit der Bemerkung: „Wer dieses grandiose Markenzeichen abschaffen oder nur verändern wollte, würde eine ungewöhnliche Dummheit begehen!“

Ein wichtiges Ziel der Bologna-Reform ist die Modularisierung des Studiums.

(Bild: Dr. Bernhard Diegner, ZVEI)

Bereits im Mai 1998 hatten sich Bildungspolitiker aus Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland auf eine „Harmonisierung der Architektur des Europäischen Hochschulsystems“ verständigt. Die sogenannte Sorbonne-Erklärung gilt als eigentlicher Startschuss der Reform. Darin wird ein gemeinsamer Qualifizierungsrahmen vorgeschlagen, ein zweiphasiges Studiensystem sowie die Förderung der Mobilität von Studenten und Hochschullehrern. Tatsächlich war in Deutschland zu diesem Zeitpunkt schon eine Novelle des Hochschulrahmengesetzes in Arbeit, die im August 1998 in Kraft trat und es den deutschen Hochschulen erlaubte, die Hochschulgrade Bachelor und Master – zunächst probeweise – einzuführen.

Ein Jahr später berieten in Bologna bereits 31 Minister aus 29 Ländern über den Weg zu einem einheitlichen Studiensystem. Die Bologna-Deklaration legt Richtlinien für vergleichbare Abschlüsse fest und beschreibt das „European Credit Transfer and Accumulation System“ (ECTS). Das System beschreibt Studienleistungen als „Workload“, ein Credit Point entspricht 30 Stunden Arbeit.

Während die Umstellung langsam Fahrt aufnahm, trafen sich die Bildungspolitiker in regelmäßigen Abständen. Die Liste der Forderungen wurde immer länger: Im Prag-Kommuniqué hielt man 2001 Grundlagen zum Lebenslangen Lernen fest und im Berlin-Kommuniqué von 2003 ging es um die Qualitätssicherung sowie um das „Diploma Supplement“, einer Art Waschzettel zu jedem Abschlusszeugnis, aus dem unter anderem hervorgeht, welche Note die ausstellende Hochschule im Durchschnitt vergeben hat.

Im Juni 2004 formulierten die Personalvorstände großer deutscher Unternehmen die Erklärung „Bachelor welcome!“, die erste von inzwischen vier Stellungnahmen zu den neuen, gestuften Abschlüssen. Die Erklärung enthält Zusagen an Absolventen, aber auch Forderungen an die deutschen Hochschulen. „Bachelor-Absolventen erhalten attraktive Einstiegschancen“, heißt es darin, aber auch: „Bachelor-Absolventen müssen das Kernwissen ihrer Disziplin beherrschen und darüber hinaus über wichtige methodische und soziale Schlüsselkompetenzen verfügen.“

Im Sommersemester 2005 gab es für angehende Ingenieure 335 Bachelor- und 397 Master-Studiengänge; das waren 36,7 Prozent aller ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge. Die Bildungspolitiker tagten derweil zur Qualitätssicherung, verlangten eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Dimension sowie flexible Bildungswege. Im London-Kommuniqué einigte man sich 2007 darauf, die Informationen zum Bologna-Prozess zu verbessern und das Leuven-Kommuniqué von 2009 fordert unter anderem, die neuen Studiengänge müssten neben der „Employability“ der Hochschulabsolventen auch deren „Citizenship“ stärken.

2009 legten Bildungsstreiks an etlichen Hochschulen den Lehrbetrieb lahm. Die Studenten besetzten vorübergehend Hörsäle und forderten eine Verbesserung der Studienbedingungen. Was von vielen als reiner Bologna-Protest wahrgenommen wurde, richtete sich jedoch auch gegen Studiengebühren und überfüllte Hörsäle – Probleme, die mit der Reform gar nichts zu tun hatten.

Mittlerweile haben 95 Prozent aller Hochschulen in Europa ihr Studiensystem weitgehend umgestellt und 90 Prozent verwenden das ECTS-Leistungspunktesystem, wie die European University Association in ihrem jüngsten Bericht mitteilt. 58 Prozent der Hochschulen bewerten die Reform dem Bericht zufolge als „sehr positiv“, 38 Prozent berichten von „gemischten Ergebnissen“, aber lediglich 0,1 Prozent urteilen ausschließlich negativ.

In der Öffentlichkeit wurden die neuen Studiengänge dagegen als verschulte Schmalspurausbildung gescholten, die ganze Reform als reines Sparprojekt dargestellt. Nachdem erste Umfrageergebnisse vorlagen, sahen sich die Bologna-Gegner bestätigt. Weder seien die Abbrecherquoten zurückgegangen, noch habe sich die Mobilität der Studenten erhöht – die gesamte Reform sei ein einziger Flop, hieß es nun in den Medien. Das Lernen an deutschen Unis würde „gnadenlos auf Effizienz getrimmt“, schrieb das Manager-Magazin im Frühjahr 2008 und die Süddeutsche Zeitung bemängelte unter der Überschrift „Stiefkind Bachelor“ fehlende Arbeitsmarktchancen. „Das System ist von vorne bis hinten Murks“, erklärte in einem Interview auf Spiegel online der Mainzer Theologe Marius Reiser, der aus Protest seine Professur aufgab.

Als die AG Hochschulforschung der Universität Konstanz im Sommer 2008 ihr 10. Studierendensurvey veröffentlichte, kommentierte der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Professor Dr. Bernhard Kempen die Ergebnisse umgehend so: „Der Bologna-Prozess steckt in einer tiefen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise.“ Er bezog sich damit auf Fragen zum Image des Bachelors: Ob der Abschluss die Attraktivität deutscher Hochschulen für Bewerber aus dem Ausland erhöhen könne, wollten die Konstanzer Wissenschaftler von den Studenten wissen, außerdem fragten sie nach den Arbeitsmarktchancen für Bachelor-Absolventen und ob die neuen Abschlüsse zu Akademikern zweiter Klasse führen würden. Die Antworten verglichen sie mit denen aus Studierendensurveys der Jahre 2001 und 2004 und stellten fest, dass die Bewertungen von Mal zu Mal kritischer ausgefallen waren. Das Ergebnis, so DHV-Chef Kempen, sei „desaströs“.

Wer sich die Mühe macht, die 75 Seiten starke Untersuchung vollständig zu lesen, stellt erstaunt fest, dass die negative Beurteilung fast ausschließlich das Image des Bachelors betrifft. Seit 1993 hat etwa die Zufriedenheit der Studenten mit ihrem Kontakt zu den Hochschullehrern laut Studie kontinuierlich zugenommen. Sie berichten von häufigeren und besseren Kontakten zu Professoren, zudem von mehr Beratungsangeboten rund um das Studium. Auch die Umfragewerte zum Forschungs- und Praxisbezug des Studiums hatten sich kontinuierlich verbessert und waren 2007, als die Bologna-Reform im vollen Gange war, so gut wie nie.

Die Berichterstattung zur Studienreform wurde unterdessen immer schärfer. Unter der Überschrift „Selbstgewählte Dummheit“ schreibt die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh im Dezember 2009 in der Online-Ausgabe der „Welt“ von „Schweinebedingungen im Bildungssystem“, angerichtet von einem „Kamikaze-Kommando aus europäischen Bildungsministern“. Beim allgemeinen Bologna-Bashing, so scheint es, ging es nun gar nicht mehr um Fakten.

Ein Ausflug in den Uni-Alltag: Fritz Webering und Ronald Becher studieren an der Leibniz Universität Hannover Informatik. Die beiden Fachschaftsvertreter haben gehört, dass es mit einem Bachelor nur schwer möglich ist, einen Job zu finden. Nur gehört? Nein, eine Kommilitonin habe sich wohl tatsächlich mehrfach beworben und nichts bekommen. Aber die meisten Mitstudenten wollten ohnehin im Masterstudiengang weitermachen. „Bei mir im Kopf ist immer noch dieses Bild vom Bachelor als einem halben Diplom“, sagt Fritz Webering, fügt aber selbstkritisch hinzu „eigentlich ist das nicht richtig – man kann ja gerade in der Informatik auch vieles autodidaktisch erlernen.“ Dass er nach dem Bachelor ohne viel Aufwand die Uni wechseln könnte, interessiert ihn weniger, da die meisten seiner Freunde in Hannover leben.

Der Norden liegt vorn: Im Sommersemester 2010 waren in sechs Bundesländern bereits über 90 Prozent der Studiengänge umgestellt

(Bild: HRK-Statistik Sommersemester 2010)

Fritz Webering hat zwei Semester im britischen Stafford verbracht. Dank einer Kooperation der beiden Hochschulen werden die ersten vier Informatik-Semester des hannoverschen Bachelor-Studiengangs dort anerkannt. So konnte er in Großbritannien nach nur einem Jahr einen Bachelor-Abschluss machen. Ganz allgemein, so berichten die beiden, sei aber die Anerkennung von Studienleistungen aus dem Ausland nicht so einfach. Ein Kommilitone habe etwa – auf eigene Faust organisiert – ein Semster in Finnland studiert. Die dort gehörte Vorlesung „Algorithmen in der Spieleprogrammierung“ wurde ihm in Hannover nicht angerechnet – es gäbe hier keine vergleichbare Lehrveranstaltung, lautete die Begründung.

An der Bremer Uni habe das Informatik-Diplomstudium gut funktioniert, berichtet Professor Dr. Hans-Jörg Kreowski. Da es auch vor der Reform schon modular aufgebaut war, musste an der Struktur gar nicht viel geändert werden. „Politisch war versprochen, dass es einfach eine Umstellung sein sollte. Tatsächlich haben die Studenten nun Probleme, einen Masterplatz zu bekommen.“ Insgesamt beobachtet Kreowski deutliche Reibungsverluste zwischen Bachelor und Master. „Wir hatten ein paar Jahre lang parallel den Bachelor- und den Diplomstudiengang und es war verwaltungstechnisch gar nicht so ein Aufwand. Dass man das Diplom ersatzlos gestrichen hat, war unnötig.“

Wie bewerten Studenten die Studiensituation? Während Studenten an der Universität dem Diplom den Vorzug geben, bewerten die Fachhochschul-Studenten den Bachelor in jeder Hinsicht etwas besser als das Diplom.

(Bild: CHE-Hochschulranking 2010)

Die zur Qualitätssicherung eingeführte Akkreditierung der Studiengänge sieht Hans-Jörg Kreowski kritisch. Die Kommissionen handelten schon mit einer gewissen Willkür, so der Bremer Informatikprofessor. „Wir mussten unsere Lehrveranstaltung zu Datenbank-Systemen auf Wunsch einer Akkreditierungskommission zur Pflichtveranstaltung machen. Aber die nächste Kommission scheint zu akzeptieren, wenn wir das wieder abschaffen“, berichtet Kreowski. „In diesen Kommissionen arbeiten Leute, die ja auch nicht besser als wir wissen, wie gute Lehre aussieht. Dass man dafür auch noch bezahlen muss, finde ich nicht richtig.“

Für Professor Dr. Manfred Hampe von der TU Darmstadt stellt sich die Situation anders dar. Er unterrichtet Maschinenbau und empfindet die Veränderungen durch die Bologna-Reform als Befreiungsschlag: „Das hat uns größere akademische Freiheit gegeben, als wir sie bisher hatten. Es ist zum Beispiel sehr gut, dass wir keine Rahmenprüfungsordnung mehr haben“, sagt Hampe. Auf diese Weise ließen sich aktivierende Lehr- und Lernformen viel leichter in die Lehre einbauen und er könne seine Studenten schon frühzeitig im Studium mit praxisrelevanten Aufgaben konfrontieren. Solche anschaulichen und motivierenden Lehrveranstaltungen passten früher nicht in die Rahmenvorgaben.

Bei der Einrichtung von Bachelor- und Masterstudiengängen ist es nach Ansicht von Manfred Hampe ganz wichtig, die Inhalte wirklich vom ersten Semester anfangend neu aufzubauen. „Es gibt Unis, die das im ersten Anlauf nicht geschafft haben. Dort hat man gesagt ‚Unser Diplom ist so toll, das teilen wir einfach 7 : 3 auf.’ Das funktioniert aber nicht. Sie müssen ganz unten anfangen.“ Die Studenten kommen in den neuen Maschinenbau-Studiengängen in Darmstadt offenbar gut zurecht: Die Abbrecherquote liegt hier seit einiger Zeit bei unter zehn Prozent – bei den Maschinenbauern lag der Bundesdurchschnitt an Universitäten 2006 bei 34 Prozent.

Zeitpunkt der Entscheidung für das Masterstudium Wer an einer Universität studiert, plant häufiger bereits von Anfang an, nach dem Bachelor noch einen Master zu machen.

(Bild: HIS-Bachelorbefragung 2004, Prüfungsjahrgänge 2002/2003)

Die TU Dresden bietet dagegen zum Wintersemester 2010/11 neben zahlreichen B/M-Studiengängen 16 neue Diplomstudiengänge an – als einziges Bundesland erlaubt Sachsen dies in seinem Hochschulgesetz. So konnte die Fakultät Informatik parallel zu Bachelor- und Masterstudiengängen einen neuen Diplomstudiengang entwickeln. Professor Dr. Christian Hochberger ist Studiendekan bei den Informatikern und berichtet von 60 Diplom- und 80 Bachelor-Studenten, die sich zum Wintersemester an seiner Fakultät eingeschrieben haben. Insgesamt sei die Nachfrage nach den Studiengängen hoch, gerade der Diplomstudiengang fände viel Zuspruch. „In Sachsen gab es generell einen ‚Wende-Knick’ bei den Bewerberzahlen, doch wir haben davon nichts gespürt. Vermutlich hat der Diplomstudiengang überregionale Bewerber angezogen.“ Er und seine Kollegen hoffen, besonders begabte Studenten für den neuen Diplomstudiengang zu gewinnen. „Das ist unser Nachwuchs für Promotionen und akademische Karrieren.“

Hochberger ist der Ansicht, dass zehn Semester „aus einem Guß“ für ingenieurwissenschaftliche Fächer einfach besser seien. Durch die Aufteilung in zwei abgeschlossene Studiengänge müsse man zu Beginn auf viele Grundlagen verzichten. „Diesen Mangel heilen wir dann nachträglich im Masterstudium.“ Allerdings gäbe es auch im neuen Diplomstudiengang ganz am Anfang ein Motivationspraktikum. „Wir haben viele Änderungen, die bei der Umstellung auf Bachelor und Master eingeführt wurden, beibehalten. Wenn Sie mich fragen: Unser Master ist besser als das alte Diplom. Aber das neue Diplom ist noch besser als der Master.“ Mit demselben Elan, mit dem die Umstellung auf das neue System betrieben wurde, hätte man auch anderswo ein viel besseres neues Diplomstudium entwickeln können, so Hochberger.

Als Fachschaftsmitglied war Marcus Hähnel am Aufbau des neuen Diplomstudiengangs in Dresden beteiligt. Der Informatik-Student begrüßt die Möglichkeit, nun wieder zwischen Bachelor- und Diplom-Einstieg wählen zu können. „Das Hauptproblem, das wir beim Bachelor/Master gesehen haben, ist der scharfe Schnitt zwischen den beiden Studiengängen. Andererseits ermöglicht eben dieser Schnitt eine Umorientierung nach der Bachelor-Phase, ohne dass die bis dahin erbrachte Studienleistung umsonst gewesen wäre. Für uns überwiegen aber, zumindest für diejenigen, die hundertprozentig wissen, dass sie Informatik studieren wollen, beim Diplomstudium die Vorteile.“

Jakob von Raumer engagiert sich in Karlsruhe in der Fachschaft der Informatik-Studenten. Er trauert dem Diplom nicht hinterher und sieht weder in einem durchgehenden Studium noch im traditionsreichen Titel besondere Vorteile gegenüber den neuen Bologna-Studiengängen. „Die Struktur des Diploms wurde für Bachelor- und Masterstudiengänge weitgehend übernommen“, beschreibt er die Abläufe an seinem Fachbereich. „Abgesehen von Kinderkrankheiten gibt es also keine riesigen Vor- oder Nachteile, was die Strukturierung des Studiengangs angeht.“ Auf die Frage, ob er auf seinem Masterabschluss gern zusätzlich den Diplom-Ingenieur-Titel sehen würde, sagt Jakob von Raumer: „Namen sind Schall und Rauch. Ich bin der Meinung, dass sich der deutsche Master, wenn er dem Diplom gegenüber nicht an Qualität verliert, international genauso etablieren wird.“

Karrierechancen für Ingenieure mit Bachelorabschluss Im Frühjahr 2009 befragte das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft 151 meist kleine und mittelständische Betriebe. Die Meinungen der Arbeitgeber offenbaren Interesse, aber auch Skepsis gegenüber den neuen Abschlüssen.

(Bild: IW-Zukunftspanel 2009)

Das bestätigt Dr. Rolf Hoffmann von der Fulbright-Stiftung in Berlin. „Das Diplom wurde in den USA früher gar nicht mit dem Master gleichgesetzt. Es ist dort allerdings bekannt, dass die deutsche Ingenieursausbildung sehr gut ist. Man muss da unterscheiden zwischen dem Inhalt und der Worthülse.“ Formal dürften deutsche Studenten nach drei Jahren Bachelorstudium gar nicht in eine amerikanische Graduate School aufgenommen werden, da diese ein vierjähriges Studium voraussetzt. Doch man habe in den USA längst gemerkt, dass einem deutschen Bachelor fachlich in drei Jahren dasselbe vermittelt wurde wie den amerikanischen Bewerbern in vier Jahren. „Die amerikanischen Hochschulen entscheiden sehr pragmatisch. Es kommt ihnen auf die Inhalte an, nicht auf den Titel.“

Auch Dr. Frank Stefan Becker hat wenig Verständnis für Titel-Nostalgie. Er ist Vorsitzender des Arbeitskreises Ingenieurausbildung beim ZVEI und leitet im VDI den Bereich der Ingenieuraus- und -weiterbildung. Dass viele Uni-Professoren den Bachelor in den Ingenieurwissenschaften nicht als berufsqualifizierenden Abschluss anerkennen, zeigt nach Ansicht von Frank Stefan Becker nicht etwa die Sorge der Unis um den Bachelor, sondern ihre Angst vor dem Bachelor. Tatsächlich eröffnet er Studenten die Möglichkeit, frühzeitig ins Berufsleben einzusteigen, statt bis zum Master oder zur Promotion weiterzustudieren und den Universitäten anschließend als wissenschaftlicher Nachwuchs zur Verfügung zu stehen.

Große, international operierende Firmen haben sich längst mit den zügig ausgebildeten Bachelor-Absolventen angefreundet. „Wir stellen nicht fest, dass etwas fehlt“, sagt Georg Bachmaier, der als Talent & Acquisition Lead Manager bei Microsoft für die Einstellung aller Hochschulabsolventen zuständig ist. Sein Unternehmen stehe voll und ganz hinter der Hochschulreform, so Bachmaier. Wichtig sei es, die Bologna-Forderungen wirklich umzusetzen. An manchen Hochschulen habe man die Studiengänge nur „umetikettiert“ – mitunter habe er den Eindruck, die dortigen Professoren wollten ihr System gar nicht ändern.

Bachmaier und sein Team stellen in Deutschland etwa 30 Hochschulabsolventen pro Jahr ein; auf eine Trainee-Stelle kommen rund 100 Bewerbungen. „Wir bekommen fantastische Bewerbungen von Bachelor-Absolventen“, so Bachmaier. Die meisten Stellen würden ohne Angabe eines bevorzugten Titels ausgeschrieben. Bachelor- und Master-Absolventen kommen bei Microsoft in dieselben Trainee-Programme und erhalten dasselbe Gehalt. Für einige Stellen, etwa im Consulting, sei gerade der Bachelor der geeignete Abschluss, sagt Bachmaier.

Kleinere und mittelständische Firmen begrüßten Bewerber mit den neuen Abschlüssen bisher nicht ganz so enthusiastisch. Die Grafik auf dieser Seite zeigt die Ergebnisse einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Im Frühjahr 2009 befragten die Kölner Wissenschaftler im Rahmen der 10. Welle des IW-Zukunftspanels Unternehmen aus dem Verarbeitenden Gewerbe, welche Perspektiven sich für Bachelors in den Ingenieurwissenschaften eröffnen. Die Antworten fielen gemischt aus, Skepsis und Zustimmung hielten sich die Waage.

Entwicklung der Abbrecherquoten in Informatik, Maschinenbau und Elektrotechnik An der Abbrecherquote in den ingenieurwissenschaft- lichen Fächern konnte die Bologna-Reform bisher nichts ändern.

(Bild: HIS-Studienabbruchuntersuchung 2008)

Die Hoffnung, durch die Bologna-Reform würde die Zahl der Studienabbrecher zurückgehen, hat sich in den Ingenieurwissenschaften nicht erfüllt. Für Dr. Ulrich Heublein vom HIS in Hannover ist das kein Wunder. Er forscht unter anderem zum Thema Studienabbruch. „Wir beobachten in einer Reihe von Fächern, dass der Wechsel auf Bachelor und Master ein Segen war, und zwar überall dort, wo bisher die Orientierung fehlte.“ Doch die mangelnde Orientierung spielt in der Informatik und den Ingenieurwissenschaften keine große Rolle. Das Problem hier sind die sehr unterschiedlichen Vorkenntnisse der Studienanfänger. Gründe für den Abbruch liegen in erster Linie in den hohen Anforderungen dieser Fächer sowie in den falschen Erwartungen der Studienbewerber. Ein Schnupperstudium für Schüler, Brückenkurse oder Mentoren-Programme könnten hier Abhilfe schaffen. Immerhin hat die Bologna-Reform dazu geführt, dass Abbrecher ihr Studium deutlich früher an den Nagel hängen, nämlich nach durchschnittlich 2,3 Semestern statt 7,3 Semestern im Diplomstudiengang.

Die Mobilität der Informatik- und Ingenieur-Studenten hat seit der Umstellung der Studiengänge weder zu- noch abgenommen. Auch hier, so Ulrich Heublein, muss man für eine differenzierte Betrachtung auf die Gründe schauen. Viele Studenten führen finanzielle Probleme als wichtigsten Grund für die Entscheidung gegen ein Auslandssemester an. Zudem hapert es noch an vielen Stellen mit der Anerkennung von im Ausland erbrachten Studienleistungen. Die sogenannten „free mover“, die ihren Auslandsaufenthalt selbst organisieren, würden weniger, sagt Dr. Rolf Hoffmann von der Fulbright-Kommission. Kooperationen zwischen deutschen und ausländischen Hochschulen können hier helfen, wie erfolgreiche Projekte vor allem an deutschen Fachhochschulen zeigen.

Die Zeitbelastung der Studenten ist ein viel beforschter Teilaspekt der Studienreform. Bisher ließ man Probanden in Befragungen den Zeitaufwand nur aus der Erinnerung schätzen. Das Projekt „Zeitlast“ unter der Leitung des Hamburger Bildungsforschers Professor Dr. Rolf Schulmeister will nun erstmals exakte Zahlen ermitteln. In einem ersten Durchgang hielten 121 Studenten aus sechs Studiengängen über ein ganzes Semester hinweg per Online-Zeiterfassungsbogen fest, was sie an sieben Tagen der Woche wie lange taten. Die ersten Ergebnisse verblüfften die Wissenschaftler und schockierten die Befragten selbst: Es ergaben sich gerade mal 26 Stunden als durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche – gefühlt waren es viel mehr gewesen. „Wir sind weiter auf der Spur zu erforschen, woher diese hohe subjektive Belastung kommt“, sagt Dr. Christiane Metzger vom Projekt Zeitlast. Möglicherweise läge es an der Zerstückelung des Stundenplans, so die Hochschulforscherin, dass die Studenten zwar netto gar nicht so viel Zeit ins Studium investierten, aber dennoch den ganzen Tag im Stress seien.

Das deckt sich mit dem, was Stefan Hatz von der Gesellschaft für Information, Beratung und Therapie an Hochschulen sagt. In diesem Fachverband ist etwa ein Drittel der Studienberater an deutschen Hochschulen organisiert. Nach seiner Erfahrung sind manche Professoren der Ansicht, ihr eigenes Fachgebiet sei so wichtig, dass der Lernfortschritt darin in mehreren Teilprüfungen kontrolliert werden müsse. Auf diese Weise entstünde oft eine unnötige Mehrbelastung der Studenten. „Da muss man seine professorale Eitelkeit auch mal lassen können“, lautet sein schlichter Rat. Insgesamt, so Hatz, habe der Druck, im Studium schnell und gut zu sein, enorm zugenommen. „Die Studenten wollen unbedingt in sechs Semestern fertig werden und müssen gute Noten haben, um einen Masterplatz zu ergattern.“

Den Fachhochschulen ist die Umstellung von Diplom auf Bachelor generell leichter gelungen, da die Diplomstudiengänge an FHs vergleichsweise gut strukturiert waren. In Bayern und Baden-Württemberg entschieden sich die FHs geschlossen dazu, einen 7-semestrigen Bachelor anzubieten, um genügend Zeit für ein Praxissemester zu haben. Nach Meinung vieler Hochschulforscher ist das ein guter Ansatz, der Beachtung verdient.

Mit den Akkreditierungsagenturen ist ein ganz neuer Wirtschaftszweig mit eigenen Interessen entstanden. Dass die Überprüfung der Studieninhalte durch externe Sachverständige zur Selbstreflexion zwingt, empfinden einige Hochschullehrer als positiv – andere fühlen sich durch allzu enge Vorschriften gegängelt.

Insgesamt hat die Bologna-Reform da, wo sie ernst genommen wurde, Chancen für neue Lernformen und -inhalte eröffnet. In den vergleichsweise jungen Informatik-Studiengängen hat sich das offenbar weniger stark ausgewirkt als an den altehrwürdigen ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten.

Die Download-Adressen aller im Text erwähnten oder zitierten Studien sind im c’t-Link zu diesem Artikel zusammengefasst.

(dwi)