Tempo machen

Einen Tag nach Nikolaus pilgerten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ins vorweihnachtliche Dresden, um zum fünften Mal den nationalen IT-Gipfel zu zelebrieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte eine raschere Umsetzung von Großprojekten an. Heraus kam eine „Dresdner Vereinbarung“, die – genauso wie der Standort Deutschland – noch Spielraum nach oben hat.

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Ein Mantra schwebte dieses Jahr unüberhörbar über dem 5. IT-Gipfel in der Hauptstadt von „Silicon Saxony“ an der Elbe: „Lasst uns aufhören, über die Risiken der Technik zu sprechen, und die Chancen betonen.“ Die Hersteller von Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) hierzulande sind nach Umsatzeinbrüchen im vergangenen Jahr wieder selbstbewusster geworden, lautete die Ansage: Sie wollen sich von „typisch deutschem Räsonnement“ die wieder auflebenden Geschäfte und die Stimmung nicht mies machen lassen.

Mangelnden Optimismus wollte sich dann auch mancher Politiker nicht nachsagen lassen. „Die Schlagzahl hat sich erhöht“, verwies etwa der gastgebende Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle auf die wirtschaftlichen Auswirkungen des Internet und der digitalen Technik, die über „Wohlstand und Arbeitsplätze“ mit entschieden. Als Devise gab der FDP-Politiker aus: „Wir wollen noch schneller und besser werden.“

Brüderle freute sich, dass Deutschland dank der IKT „mit Schwung aus der Wirtschaftskrise herausgekommen ist“. Computer und die Vernetzung seien Treiber in allen Industrien. Der Minister konnte sich dabei auf eine Studie des ZEW Mannheim stützen, wonach die IKT-Branche in diesem Jahr sieben Prozent ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung ausgegeben habe, die Gesamtwirtschaft im Vergleich dazu nur drei Prozent. Trends wie Cloud Computing, mobiles Internet und Breitband eröffneten Chancen für neue Geschäftsmodelle und böten Lösungen für gesellschaftliche Zukunftsaufgaben wie E-Government, heißt es in der Analyse. Besonders stark sei Deutschland bei der Integration der Technik in industrielle Anwendungen etwa zum Aufbau intelligenter Netze zur besseren Nutzung knapper Ressourcen wie Energie und Verkehrsmittel.

Allein: Es gibt auch ambivalentere Urteile über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Laut einer Umfrage sahen Experten zwar gute Beispiele etwa für sichere IT-Infrastrukturen, doch fehle beim Großteil der Bevölkerung noch das nötige Bewusstsein für Netz- und Datensicherheit. Und ein „Monitoring-Report Deutschland Digital“, in dem der hiesige IKT-Standort international verglichen wird, sieht die Bundesrepublik unverändert gemeinsam mit den Niederlanden auf dem siebten Platz. Südkorea hat in der vom Marktforschungsinstitut TNS Infratest erstellten Rangliste 2010 die Spitzenposition von den USA übernommen. Auch Japan, Dänemark, Großbritannien und Schweden liegen vor Deutschland.

Hans-Joachim Otto, parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsressort, sah aber keinen Grund zur Schwarzmalerei: „Wir haben einige Schwächen verringert, sind in anderen Bereichen an die Spitze gelangt“, interpretierte er die Zahlen. Deutschland sei vor allem bei der konkreten Nutzung der Internetanschlüsse stark. Dass die Regierung ihr in der Breitbandstrategie aufgestelltes Ziel, allen Haushalten bis Ende des Jahres einen Internetanschluss mit mindestens 1 MBit/s zu verschaffen, knapp verfehlt hat, sei zu verschmerzen. Mehrere Bundesländer hätten zudem schon die Vorgabe für 2014 erreicht, mindestens 75 Prozent der Haushalte mit Anschlüssen mit mehr als 50 MBit/s zu versorgen.

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (im Bild in der Mitte, mit Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich und Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger) möchte einen „engen Schulterschluss zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft“. Die IT-Gipfel seien dafür die richtige Plattform, verteidigte er die Veranstaltung gegen Kritik.

Brüderle forderte einen „engen Schulterschluss zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft“, um weiter nach vorn zu kommen. Der IT-Gipfel und die damit verknüpften übers Jahr tagenden Arbeitsgruppen seien dafür die richtige Plattform. Als „gewaltige Herausforderung“ und „Daueraufgabe“ beschrieb der Liberale entgegen dem inoffiziellen Kongressmotto die Gewährleistung der IT-Sicherheit. Durch Cyber-Angriffe entstünden der Wirtschaft hierzulande jährlich Schäden in dreistelliger Millionenhöhe. Der Staat und die Unternehmen müssten sich daher stärker gegen Computerviren und auch den „Cyberwar“ wappnen. Er werde daher im Wirtschaftsministerium eine „Taskforce IT-Sicherheit“ einrichten, auch die Bundesregierung plane dazu eine Arbeitsgruppe.

Deutschland sieht Brüderle wegen seiner Geschichte und der daraus erwachsenen „Sensibilität“ prädestiniert für die Entwicklung von Sicherheitslösungen: „Wir hatten totalitäre Systeme, in denen Daten gesammelt und missbraucht wurden.“ Heute könnten geheime Unternehmensinformationen und vertrauliche Behördendaten „blitzschnell geknackt und übers Internet verbreitet werden“, was Wikileaks bewiesen habe. Auch die Whistleblower-Seite zeige, dass ohne Schutzmaßnahmen das Vertrauen in neue Online-Dienste leide. Manches, was er der Enthüllungsplattform entnehmen könne, erinnere ihn „an die Stasi“, fügte der Minister an und sorgte damit für den Aufreger des Tages. Später bezeichnete er den Vergleich als „vielleicht etwas überpointiert“. Ein System, das „so viel sammelt“, löse bei ihm aber Unbehagen aus.

Der Präsident des Hightechverbands Bitkom, August-Wilhelm Scheer, bezeichnete Wikileaks zusammen mit Google Street View und dem Boom der Smartphones als Bespiel für die „rasende Geschwindigkeit unserer Industrie“. Zugleich formulierte er eine Wunschliste an die Regierenden. Als obersten Punkt nannte der Chef der Lobbyvereinigung eine steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung, als zweiten eine ausgewogene Netzpolitik, die eine Emotionalisierung vermeide. Zugleich bedürfe es klarerer rechtlicher Rahmenbedingungen. So habe die Wirtschaft viel in Systeme zur Vorratsdatenspeicherung investiert, was sich nun teils obsolet erweise.

Scheer sprach sich gegen ein Zuviel an Regulierung aus, um den technischen Fortschritt nicht zu blockieren. Zu bedenken gab er auch, dass sich Bestimmungen zum Urheberrechtsschutz durch neue Technologien ändern könnten. Hilfe forderte er beim Kampf gegen den Fachkräftemangel, die sich auch in einer Offenheit gegenüber dem Ausland zeigen müsse.

Kanzlerin Merkel ging auf den Wunschzettel nur mit der Bemerkung ein, dass sich manche Aufgaben Jahr für Jahr wiederholten. So sei die steuerliche Forschungsförderung zwar in IT-Fachkreisen unumstritten, unter Steuerexperten insgesamt aber noch viel Überzeugungsarbeit nötig. Generell wertete die CDU-Politikerin den Gipfelprozess als großen Erfolg und gelobte, Gas zu geben.

Angela Merkel kritisierte, dass viele IT-GroĂźprojekte zu lange dauerten. Auch sei mehr Kooperation notwendig, um den Ausbau der Breitbandversorgung in Deutschland schneller voranzubringen.

Allerdings: Nicht alle IKT-Entwicklungen dürften so lange dauern wie die Verbreitung der elektronischen Gesundheitskarte, monierte die Regierungschefin. Die Politik selbst habe die Smartcard zur Gesundheitsversorgung ein Jahr ein wenig ausgelassen, werde sie 2011 jedoch wieder stärker nachfragen. „Die regionalen Testwege werden langsam, aber zielstrebig genutzt“, zeigte sich Merkel zuversichtlich. Generell sei es erfreulich, dass sich hierzulande mehr und mehr Menschen mit Fragen der modernen IKT auseinandersetzten.

Als nötig erachtete die Kanzlerin eine noch bessere Kooperation, um den Breitbandausbau und das Legen von Glasfaser voranzubringen. Merkel machte sich für Leitstraßen stark, in denen die benötigte Infrastruktur für die Versorgung von Haushalten mit superschnellem Internet schon möglichst weitgehend angelegt ist. Im Abschlussdokument des Gipfels, der „Dresdner Vereinbarung“, geloben Regierung und Wirtschaft, weiterhin „einen wettbewerbsbasierten Ausbau von Hochgeschwindigkeitsnetzen entschieden vorantreiben“ zu wollen. Dabei werde die geplante Novelle des Telekommunikationsgesetzes (TKG) einen Rahmen schaffen „für Kooperationen und die Hebung von Synergien über die Nutzung schon vorhandener Netzinfrastrukturen“.

Für die nächste Internetgeneration wollen Politik und Wettbewerber 2011 Regeln für einen freiwilligen offenen Netzzugang erarbeiten. Wirksamer Wettbewerb solle das maßgebliche Korrektiv bleiben, um Eingriffe in die Netzneutralität zulasten von Verbrauchern oder Diensten zu verhindern, heißt es in der Erklärung. Man stimme zwar überein, dass Diskriminierungsfreiheit und ungehinderter Zugang zu Informationen auch künftig im Internet gewährleistet werden müssten. Die Instrumente des Kartellrechts und die mit der TKG-Reform avisierten Transparenzbedingungen reichten aus heutiger Sicht aber aus, um Netzneutralität zu gewährleisten.

René Obermann, der Chef der Deutschen Telekom, gab sich mit den Absprachen nicht zufrieden. Die Rahmenbedingungen seien ganz konsequent so zu setzen, dass wir Infrastrukturinvestoren Spielräume haben, betonte er. Die USA hätten Breitbandnetze bereits seit 2003 von der Regulierung ausgenommen, „die Asiaten machen es mit knallharter Industriepolitik“. Der EU empfahl er, einen klugen dritten Weg zu fahren. Dabei solle eine Kontrolle nur noch da ansetzen, wo sie wirklich notwendig sei und etwa Flaschenhälse beim Netzzugang vorherrschten. Die Politik müsse die alten Prinzipien einmotten, „wo wir noch Monopolist waren“.

Die Dresdner Vereinbarung sieht die Einführung eines Markenzeichens „Cloud Computing made in Germany“ vor. Im Rahmen des Technologiewettbewerbs „Trusted Cloud“ sollen mittelständische Unternehmen Beispiele für den innovativen und sicheren Einsatz der Datenverarbeitung in den Rechner-Wolken entwickeln. Das damit entstehende „Business Web“ sei geprägt durch eine offene Plattform für Applikationen und die „Gesamtorchestrierung vom Internet der Dinge bis zum mobilen Endgerät“. Um die IT grün zu halten, haben Politik, Verbände und Forscher eine Initiative „Green Office Computing“ verabredet. Für Datenzentren soll die Einhaltung eines EU-Verhaltenskodexes für energieeffizientes Arbeiten propagiert werden.

Startups wollen Staat und Wirtschaft mit dem Programm „Junge IT-Unternehmen starten durch“ gezielt unterstützen. Dazu soll die Einrichtung einer Dialogplattform „IT und Mittelstand“ gehören. Bisher beklagten kleine Unternehmer, kaum Zugang zu den Arbeitsgruppen zwischen den einzelnen Gipfeltreffen zu finden. Auch regionale Mikroelektronik- und IT-Cluster wie „Cool Silicon“ sollen ausgebaut werden.

Zum Voranbringen des oft stockenden Prozesses der Digitalisierung der Verwaltung und des Open Government haben sich die Gipfelpartner darauf verständigt, eine benutzerfreundliche und zentral zugängliche Open-Data-Plattform aufzubauen – allerdings erst ab 2013. Zur Stärkung von Vertrauen, Schutz und Selbstverantwortung in der digitalen Welt setzt die Vereinbarung auf den elektronischen Personalausweis, Regeln für sichere Identitäten, das De-Mail-Projekt, die Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs und bessere Sicherheitstechniken fürs Online-Banking.

Das große Schulterklopfen von IT-Branche und Politik, das auch auf dem fünften IT-Gipfel zu beobachten war, hatte schon im Vorfeld Kritik ausgelöst. Außer Spesen nix gewesen? So sahen es zumindest viele Beobachter, die angesichts schon im Vorfeld erwartbarer Ergebnisse und – bei einigen Themen wie Breitbandausbau – Wiederholungen von Vorjahresvorhaben die Sinnhaftigkeit dieser Treffen infrage stellten. Ein IT-Experte, der an der vorherigen Ausgabe des IT-Gipfels beteiligt war, kritisierte die Veranstaltung gegenüber dem ZDF als „reine PR“. Merkel durfte aber nach ihrem Abstecher in die Niederungen der IT-Welt noch verraten, dass der Gipfel nicht etwa zum letzten Mal über die Bühne ging, sondern im kommenden Jahr von Freistaat zu Freistaat wandern werde. Das nächste Schulterklopfen der Branche soll also in München stattfinden.

Für die Opposition war der IT-Gipfel ein gefundenes Fressen, der Regierung mangelnde IT- und Netzkompetenz vorzuwerfen. „Die gezeigte Leistungsschau kann nicht über die fehlenden politischen Leitlinien der Bundesregierung im Bereich Netzpolitik hinwegtäuschen“, beklagte Malte Spitz vom Bundesvorstand der Grünen. Beim Datenschutz verpasse Schwarz-Gelb täglich die Chance, den Schalter zu einem modernen Ansatz umzulegen. Der Netzexperte der Grünen, Konstantin von Notz, monierte, dass auf der medienwirksamen Bühne für die Regierung der notwendige Diskurs über die Zukunft der digitalen Gesellschaft kaum stattgefunden habe. Sein SPD-Kollege Lars Klingbeil ergänzte, dass sich Mitglieder der Exekutive erneut nur mit vollmundigen Ankündigungen übertroffen hätten, denen keine Taten folgten. Auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter tat den Gipfel als „reine Schauveranstaltung“ ab. Er rief nach einem „Internetminister im Kanzleramt“. (jk)