Aufräumen im Orbit

Simulationsrechnungen zeigen, dass die zahllosen Schrottteile in der Erdumlaufbahn in den kommenden Jahren zu heftigen Crashs führen werden. Die NASA will nun mit dem Aufbau einer Weltraum-Müllabfuhr beginnen.

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Von
  • Brittany Sauser

Simulationsrechnungen zeigen, dass die zahllosen Schrottteile in der Erdumlaufbahn in den kommenden Jahren zu heftigen Crashs führen werden. Die NASA will nun mit dem Aufbau einer Weltraum-Müllabfuhr beginnen.

Vorbei sind die Zeiten, als der erdnahe Weltraum eine leere Weite war. 22.000 Satelliten und andere Objekte werden derzeit vom US-amerikanischen Space Surveillance Network (SSN) überwacht. Wie nötig das ist, zeigt ein Vorfall vom September: Als von einem 19 Jahre alten, nicht mehr im Betrieb befindlichen NASA-Satelliten in 500 Kilometern Höhe ein Stück abbrach, wurde es vom SSN sofort erfasst. Die Berechnung der künftigen Flugbahn zeigte, dass es in absehbarer Zeit die Internationale Raumstation ISS treffen – und dort einen erheblichen Schaden anrichten würde. Die NASA, vom SSN gewarnt, beschloss daraufhin, die Flughöhe der ISS geringfügig zu ändern.

Die Gefahr solcher Kollisionen habe sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, sagt Nicholas Johnson, bei der NASA für Weltraummüll verantwortlich. Denn die Zahl der Schrottteile im Orbit ist wesentlich größer als die vom SSN erfassten: Etwa eine halbe Million Objekte mit einem Durchmesser von mehr als einem Zentimeter kreisen bereits um die Erde, davon 15.000 größer als eine Faust.

Rasant Vermüllung: Die Anzahl der Objekte im Orbit, die größer als zehn Zentimeter sind, nimmt im Schnitt jährlich um 300 Teile zu.

(Bild: NASA)

Die meisten Raumfahrzeuge sind jedoch heutzutage mit einer Panzerung ausgestattet, die nur einen Aufprall von wenige Millimeter großen Teilen abmildern kann. Größere Objekte wie ausgebrannte Raketenstufen oder ausgediente Satelliten würden bei einer Umlaufgeschwindigkeit von acht Kilometern pro Sekunde Satelliten und Raumkapsel locker zerschmettern. Für die 160 Milliarden Dollar schwere Satellitenindustrie, von der Telekommunikation, Ortungsdienste oder Aufklärung abhängen, eine ungemütliche Situation.

Um die Bedrohung besser abschätzen zu können, hat die NASA deshalb eines der ausgefeiltesten Prognose-Programme überhaupt entwickelt: „Legend“, kurz für „low-Earth to geosynchronous environment debris“ (Umweltschrott in niedrigen und erdsynchronen Umlaufbahnen). In dem dreidimensionalen Computermodell lassen sich die Flugbahnen sämtlicher erfasster Objekte simulieren. Sogar neu hinzukommende Schrottteile kann die Software mit einplanen. Um zufällige Störungen der Bahnen zu berücksichtigen, erstellt Legend nach der so genannten Montecarlo-Methode mehrere Hundert Szenarios, wie sich die Situation im Orbit weiterentwickelt. Die Montecarlo-Methode arbeitet mit Algorithmen, die Risikofaktoren in komplexen Umgebungen bestimmen können.

Auf diese Weise kann die NASA berechnen, wann und wie oft Objekte unterschiedlichster Größe in Zukunft mit anderen kollidieren könnten. Während das Strategic Command Joint Space Operations Center nur große Schrottteile auf Zusammenstöße in den nächsten 72 Stunden überprüft, reicht der Blick von Legend viel weiter in die Zukunft – und bezieht auch sehr kleine Objekte mit ein.

Seit 2004 wird das NASA-Modell ständig mit neuen Daten gefüttert. Die stammen von Teleskopen und Radarstationen, von Raketentests, aber auch aus der Analyse winziger Einschlagskrater auf der Außenwand von wieder gelandeten Raumfahrzeugen. Weil sich die Lage dauernd ändert, muss Legend permanent neue Simulationsrechnungen starten.

Die Ergebnisse werden an die ISS-Kontrollstation und an Raketenabschussbasen weitergegeben, von denen neue Satelliten in die Umlaufbahn geschossen werden sollen. Einige Wissenschaftler entwickeln auf Grundlage der Legend-Daten bereits Konzepte, wie man eine Art Weltraum-Müllabfuhr organisieren könnte. 2009 fand auch die erste Orbital Debris Removal Conference statt.

Laut Legend-Chefwissenschaftler J.C. Liou prognostizieren die Simulationsrechnungen zurzeit für die kommenden 200 Jahre 178 größere Kollisionen. 83 davon werden in niedrigen Umlaufbahnen stattfinden und katastrophale Auswirkungen haben. Der letzte heftige Zusammenstoß ereignete sich im Februar 2009, als ein Satellit des Iridium-Telekommunikationsnetzes mit 24.000 Kilometern pro Stunde in einen alten russischen Kosmos-Satelliten krachte. Dabei wurde nicht nur zum ersten Mal ein funktionierender Satellit zerstört – der Weltraummüll wurde auch mit weiteren 2.000 Schrottteilen angereichert.

Anzahl der Kollisionen seit 1960 und ihre Zunahme in drei Szenarien bis 2110. Abkürzungen: BAU=business as usual; PMD=post mission disposal; NFL=no future launches.

(Bild: NASA)

Für die NASA war das ein Warnschuss, der die seit den 1950er Jahren geltende Annahme erschütterte, der erdnahe Weltraum sei viel zu groß für solche Unfälle. „Die ‚Big Sky’-Theorie ist kein brauchbares Konzept für Weltraumoperationen mehr“, sagt denn auch Chris Moss, Direktor des Joint Space Operations Center auf der Vandenberg Air Force Base in Kalifornien. Satelliten seien heute auf einige wenige Umlaufbahnen konzentriert. „Ein Zusammenstoß von zwei Objekten ist keine Lappalie mehr. Wir nehmen das Problem ernst und stecken bereits einiges Geld in die Lösung.“

Leicht ist die Aufgabe nicht, da viele Kleinstteile von der Erdoberfläche aus nicht zu erfassen sind. Mehr noch: „Wir treten in eine Phase ein, in der es zunehmend zu Zufallskollisionen von Schrottteilen kommt“, warnt Raumfahrt-Berater Donald Kessler. Der ehemalige NASA-Astrophysiker sagte diese Entwicklung bereits 1978 als erster voraus. Sein wegweisendes Paper „Collisional Frequency of Artificial Satellites: The Creation of a Debris Belt“ initiierte das Orbital Debris Program Office der NASA, dessen leitender Wissenschaftler Kessler dann war. Die heutige Situation wird nach ihm auch „Kessler-Syndrom“ genannt.

In einem kürzlich erschienenen Aufsatz verglich er seine damalige Prognose mit der tatsächlichen Entwicklung. Sein Fazit: Wir haben ein ernstes Problem. „Selbst wenn wir keine neuen Satelliten mehr starten würden, produzieren Zufallskollisionen mehr neue Schrottteile, als durch die Luftreibung der oberen Atmosphäre aus dem Orbit entfernt werden“, sagt Kessler. Deshalb müsse nun aktiv etwas dagegen tun. Die Legend-Simulationen zeigten, dass es keinen großen Unterschied mehr mache, ob Zusammenstöße noch durch Positionsmanöver vermieden würden oder nicht. Die Grundsituation, so Kessler, bleibe gleich, weil es zu viele Schrottteile gebe, die sich nicht bewegen ließen.

In Washington ist der Warnruf inzwischen auch angekommen. In seinem Raumfahrt-Konzept 2010 hat US-Präsident Obama die NASA und das Pentagon angewiesen, im Weltraum für Ordnung zu sorgen. Zugleich präsentierte er eine Liste von Forschungsprojekten für eine Weltraum-Müllabfuhr. „Der nächste Schritt ist, den Schrott wieder einzusammeln“, sagt Nicholas Johnson. Ab 2011 sollen die ersten Gelder dafür bereitgestellt werden.

Die Papers von Donald Kessler:
Kessler, Donald et al., "The Kessler Syndrome: Implications to Future Space Operations" , (Preprint) AAS 10-016, 2010.
Kessler, Donald & Cour-Palais, Burton, "Collisional Frequency of Artificial Satellites: The Creation of a Debris Belt", Journals of Geophysical Research, Vol. 83, No. A6, 1.6.1978. (nbo)