Fernstreichelbare HĂĽhner

Jaron Laniers Streitschrift "Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht" erinnert an Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" - eine Abfolge sonderbarer Essays und Erzählschlenker, die ihren Zusammenhang in den neuen Kulturkräften der digitalen Welt suchen.

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Von
  • Peter Glaser

Jaron Laniers Streitschrift "Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht" erinnert an Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" – eine Abfolge sonderbarer Essays und Erzählschlenker, die ihren Zusammenhang in den neuen Kulturkräften der digitalen Welt suchen.

Der Virtual Reality-Pionier, Künstler und IT-Unternehmer Jaron Lanier warnt vor den Folgen des ständigen Onlineseins und dem Verlust an Individualität in der Anonymität des Internet, vor dem Zerfall kultureller Zusammenhänge und vor dem Erstehen digitaler Mobs.

Seine Sorge, die er in der Streitschrift "Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht" darlegt, gilt dem Ungefähren der menschlichen Natur, aus dem alles Schöpferische hervorgeht. Der zentrale Fehler der neueren digitalen Kultur liegt seiner Meinung nach "in dem Bestreben, ein Netzwerk von Individuen so fein zu zergliedern, dass am Ende nur ein Brei übrigbleibt". Im Unbestimmten liegt für Lanier das Wesen des Individuums, das Nichtcomputerbare. Mit dem Vormarsch der Software-Herrschaft sieht er die Fülle der Menschlichkeit gefährdet, sie reduziert und verkürzt.

Auch wenn er sich oft anhört wie ein Kulturpessimist mit seinen für den amerikanischen Standardoptimismus geradezu europäischen Bedenken, ist der Mann doch viel eher ein Romantiker. Er versucht Argumente zu versammeln, die für einen neuen, digitalen Humanismus sprechen: "Wenn man in einem aus Software bestehenden Medium lebt, läuft man Gefahr, schon bald in den wenig durchdachten Ideen anderer Menschen gefangen zu sein. Dagegen sollte man angehen."

Auch die Popkultur ist in seinen Augen im Begriff, in einen Zustand nostalgischen Elends zu geraten: "Die Online-Kultur wird von trivialen Mashups und jener Kultur beherrscht, die vor dem Aufkommen dieser Art von Vermischungen bestand und von Fangemeinden, die nur noch auf die schrumpfenden AuĂźenposten zentralisierter Massenmedien reagieren."

Aber Lanier unterschätzt die Qualität und die Dimensionen von Mashups oder Samples, um gleich ein Großbeispiel aus der Literatur zu nennen: Walter Kempowskis "Echolot", ein vieltausendseitiges Werk aus verschiedensten Dokumenten der letzten Monate des 2. Weltkriegs, die sich als reine Collage – ohne dass der Autor ein eigenes Wort hinzugefügt hätte – zu einem grandiosen Panorama einer Zeit fügen. Mit seinen verstreuten Traktaten wird Lanier im übrigen seinem eigenen Anspruch eines nichtfragmentierten Textes selbst nicht unbedingt gerecht – wobei das keineswegs negativ ist.

Was eine Lösung sein kann, sieht Lanier als Problem: die Partikularisierung der Kultur durch die immense Zunahme an Kommunikationskanälen. Wer die Übermengen an oft hochinteressantem Material im Internet zumindest nach dem Wichtigsten durchsuchen möchte, hat, nachdem der Tag unverrückbar 24 Stunden hat, nur eine Möglichkeit, sein Pensum zu schaffen: mehr kürzere statt wenige lange Texte, Filme, Symphonien etc.

Das große Werk, der tiefe Text – sie alle stehen für eine Welt, die nach dem Empfinden Laniers nun auf elektronischem Weg in kleine Weltkrümel zerbröselt und ein globales Banausentum heraufbeschwört. Es ist die Angst vor dem Chaos und der wachsenden Komplexität.

Wenn ein Computerprogramm an Größe zunimmt, kann es sich, so der Autor, "zu einem fürchterlichen Gewirr auswachsen. Und sobald andere Programmerer daran beteiligt sind, wird es leicht zu einem unüberschaubaren Labyrinth". Das Problem ist so alt wie die menschliche Kultur. Die großen Epen der Frühzeit, Gilgamesch, Ilias, Odyssee, sind nach den selben Prinzipien entstanden – von einer Vielzahl von Autoren über Generationen verfasst und weiterentwickelt.

Und manchmal startet der gute Lanier dann richtig durch: Zu einer gleichermaßen wunderlichen wie vergnüglichen Darlegung beispielsweise, etwa wenn er die begrenzte Reichweite des menschlichen Mitempfindens als Maß erörtert und – über den Hinweis, dass wir unmöglich leben können, ohne Bakterien zu töten – auf Fundamentalisten kommt, die Zahnbürsten in die Luft sprengen. Oder er berichtet von einem Virtual Reality-Forscher, der solche Empathie für Hühner empfindet, dass er sogenannte Tele-Immersionsanzüge für sie baute, um sie von seiner Arbeitsstätte aus telestreicheln zu können.

Uns wie auch Jaron Lanier sind noch viele fernhühnerhafte Dinge zu wünschen, von denen er uns erzählen kann – und etwas mehr unromantische Zuversicht. (bsc)