Zehn Jahre Wikipedia

In zehn Jahren hat sich die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia vom Hobby-Projekt zu einer der wichtigsten Wissens-Quellen im Netz entwickelt. Wir zeichnen die wichtigsten Entwicklungsschritte des Projekts nach.

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Von
  • Torsten Kleinz

In zehn Jahren hat sich die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia vom Hobby-Projekt zu einer der wichtigsten Wissens-Quellen im Netz entwickelt. Wir zeichnen die wichtigsten Entwicklungsschritte des Projekts nach.

2001


Die Wikipedia geht an den Start. Zunächst unter Domain Wikipedia.com eröffnet Jimmy Wales mit seinem Angestellten Larry Sanger das Projekt, aus dem später eine der wichtigsten Seiten des Internets werden wird. Es ist ihr zweiter Anlauf: mit dem Projekt Nupedia hatten sich beide schon einmal an einer Online-Enzyklopädie versucht. Rigide Kontrollmechanismen sollten Qualität gewährleisten. Doch das Verfassen von Artikeln war so kompliziert, dass nur sehr wenige Artikel eingereicht werden.

Mit dem von Ward Cunningham entwickelten Wiki-Konzept finden Sanger und Wales das Erfolgsrezept: Alle Inhalte werden sofort online gestellt, jeder kann sich direkt an der Webseite beteiligen. Die Aufteilung der Arbeit ist klar: während sich Sanger als erster Chefredakteur um die tägliche Arbeit auf der Plattform kümmert, sorgt Jimmy Wales für Finanzierung und Marketing.

Erste Erfolge stellen sich schnell ein: schon nach zwei Monaten verbucht die Wikipedia die ersten 100.000 Wörter, im März eröffnete unter der Domain deutsche.wikipedia.com der erste internationale Ableger.

2002

Mit dem Erfolg kommt auch der erste große Streit: Eine E-Mail, in der Sanger den möglichen Beginn der Werbefinanzierung der Wikipedia nahe legt, spaltet sich die spanischsprachige Community ab und wanderte auf einen Server der Universität von Sevilla ab. Es dauert Jahre, bis Wikipedia diesen Verlust wieder wettmachen kann.

Auch Larry Sanger verlässt alsbald die Wikipedia. Er versucht, höhere Qualitätsanforderungen durchzusetzen und beklagte die anti-elitäre Haltung der Wikipedianer. Es ist eine Trennung im Streit: Obwohl Sanger nichts mehr mit seinem einstigen Projekt zu tun haben möchte, streitet er sich mit Jimmy Wales bis heute darum, wer die Idee zur Wikipedia gehabt hat und deshalb den Titel "Gründer" verdient.

Wichtige technische Neuerung: Statt dem anfangs verwendeten UseModWiki stellte Wikipedia auf eine eigene Software um, die schließlich MediaWiki getauft wurde und zu einer der meist genutzten und performantesten Wiki-Lösungen avanciert. Die Tage des CamelCase, der rudimentären Linksetzung per Binnengroßschreibung, sind damit endgültig gezählt.

2003

Das exponentielle Wachstum der Wikipedia ist nicht mehr zu übersehen. Nach nur zwei Jahren hat Wikipedia einen Umfang von 100.000 englischsprachige Artikeln, immer neue Sprachversionen kommen hinzu. Wikipedia ist endgültig aus dem Experimentierstatus herausgewachsen. Wales' Firma Bomis.com kann die Finanzierung nicht mehr schultern.

Um die Enzyklopädie auf eigenen Füße zu stellen, gründet Wales die Wikimedia Foundation, die Spenden einsammeln und den Betrieb der Wikipedia gewährleisten soll. Davon unabhängig entwickelt auch die Community Strukturen, um Streitfälle zu klären und Regeln festzusetzen: das "Arbitration Committee" tagt erstmals. Als im September die Server der Nupedia versagen, verschwindet das Projekt für immer.

2004

Der Verein Wikimedia Deutschland wird gegründet. Die deutsche Community hat sich schon frühzeitig etabliert. Zwar hinkt die deutsche Wikipedia der englischen bei der Artikelzahl hinterher, die deutschen Autoren sind aber eng vernetzt und versuchen mit der Organisation von Veranstaltungen und Pressearbeit die Ziele freien Wissens zu fördern. Während die US-Stiftung noch ziellos ist, entstehen in Deutschland viele Projekte und Strukturen, die den Kurs der Wikipedia mit bestimmen. So führen erste Kooperationen mit Verlagen zu dem Bewusstsein, dass Wikipedia möglichst druckfertige Artikel liefern will und nicht auf ewig Provisorium sein will.

Das Wiki-Konzept soll auf immer neue Bereiche ausgedehnt werden. Nach dem Wiki-Wörterbuch Wiktionary startet auch das Projekt Wikinews. Beide Projekte können jedoch nicht mit dem rasanten Wachstum der Wikipedia nicht Schritt halten. Auch auf der internationalen Bühne ist Wikipedia angekommen. China adelt das Projekt auf seine Art: Ende 2004 wird die Wikipedia erstmals von der chinesischen Zensur gesperrt.

2005

Wikipedia schwimmt ganz oben auf der Erfolgswelle: Eine Spendenaktion bringt 220.000 Dollar ein, mehr als genug für den Betrieb der Server. Das Projekt wird mit Preisen überhäuft und in Frankfurt findet der erste Wikipedia-Kongress statt. Die Online-Enzyklopädie ist so bekannt und populär, dass sich die ersten Lehrer und Professoren lautstark über Plagiate beschweren. Auch innerhalb der Wikipedia sorgt ein Plagiat für Ärger: 196 Artikel waren offenbar aus DDR-Lexika übernommen worden – und werden von der Community aussortiert.

Ende des Jahres wird Wikipedia vom ersten großen Skandal erschüttert. Ein Witzbold hatte dem US-Journalisten John Seigenthaler eine Verwicklung in das Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy angedichtet. Als Seigenthaler dies bemerkt, wird aus dem vermeintlichen Lausbubenstreich ein Politikum: Medien stellen die Frage nach Verlässlichkeit und Haftbarkeit von Wikipedia-Inhalten. Jimmy Wales bringt erstmal das Konzept der "stabilen Versionen" ins Spiel, die Arbeitsversionen von geprüften Artikeln unterscheiden sollen.

2006

Die englischsprachige Wikipedia feiert im März ihren millionsten Artikel, die deutschsprachige Version hat im November eine halbe Million Artikel. Dennoch setzt sich die Auffassung durch, dass Wachstum nicht alles ist: Auf der Wikimania 2006 appeliert Wales für eine kollektive Qualitätsinitiative.

In Deutschland wird mit dem Streit um die Nennung des Realnamens des verstorbenen Hackers Tron ein Grundsatzstreit vor Gericht ausgefochten. In der Folge wird die Domain wikipedia.de zeitweilig blockiert – die Domain de.wikipedia.org bleibt jedoch unangetastet. Auch wenn Wikimedia Deutschland den Rechtsstreit in allen Punkten gewinnt, stellt sich die Frage, wie die Community mit vermeintlich schädlichen Informationen umgeht. Es ist der erster einer ganzen Reihe von Rechtsstreitigkeiten in Deutschland, die nicht zuletzt daran scheitern, dass die Wikipedia von den USA aus betrieben wird.

2007

Larry Sanger taucht wieder auf. In Berlin verkündet er den Start des Konkurrenz-Projekts Citizendium, das mit der Offenheit und der Anonymität in der Wikipedia brechen und so verlässlichere Qualität liefern soll. Doch der vermeintliche Wikipedia-Killer nimmt niemals Fahrt auf. Die Wikipedia hingegen verzeichnet im August 2007 den fünfmillionsten registrierten Nutzer. Wie viele Internet-Nutzer sich ohne Registrierung beteiligt haben, ist unbekannt.

Die Wikimedia Foundation steckt unterdessen in der Krise. Das ehrenamtliche "Board Of Trustees" ist mit der Führung der internationalen Enzyklopädie überfordert, von den inzwischen neun Schwester-Projekten ganz zu schweigen. Wikimedia schlingert führerlos vor sich hin und wird nur durch die unermüdliche Arbeit der Community am Leben gehalten. Der als Interims-Geschäftsführer eingestellte Brad Patrick verabschiedet sich Anfang 2007 aus dem Amt, ohne die Organisation weiter gebracht zu haben. Dies ändert sich erst Ende 2007 mit der Einstellung der Kanadierin Sue Gardner, die die Wikimedia Foundation "neu booten" soll. Ihr erster Schritt: sie verlegt den Sitz der Stiftung aus Florida nach San Francisco.

2008

Auch wenn das starke Wachstum der Artikel langsam nachlässt, erfreut sich die Online-Enzyklopädie immer noch rapide wachsender Beliebtheit. Im Oktober 2008 zählt der Wikipedia-Statistiker Erik Zachte mehr als zehn Milliarden Seitenabrufe in einem Monat. Wikipedia ist mittlerweile zu einem Großprojekt geworden: Über 400 Server liefern die Inhalte aus. Wegen der enormen Größe sind Neuerungen nur schwer durchzusetzen: Drei Jahre nach der ersten Ankündigung führt die deutsche Wikipedia endlich die "gesichteten Versionen" ein, um Vandalismus vorzubeugen.

Ein neuer Skandal erschüttert Wikipedia Ende 2008. Wegen eines umstrittenen Album-Covers der deutschen Band Scorpions landet ein Wikipedia-Artikel auf der britischen Kinderporno-Sperrliste. Durch die Maßnahme werden britische Wikipedia-Nutzer vom Schreiben abgehalten. Die britische Internet Watch Foundation muss die Sperre schließlich aufgrund des enormen öffentlichen Drucks aufheben.

2009

Mit dem Erfolg der Online-Enzyklopädie werben Wikipedia-Aktivisten darum, auch andere Inhalte für die Öffentlichkeit frei zu geben. Mit gemischtem Erfolg: die deutsche Fotothek spendiert beispielsweise 250.000 Bilder, andere Kooperationspartner folgen. Die National Portrait Gallery in London wird hingegen ungefragt zum Bilder-Spender und beansprucht das Urheberrecht auf die Digitalisate mehrere hundert Jahre alter Bilder.

Nach mehreren Jahren Vorbereitungsdauer hat Wikipedia auch ein internes Lizenzproblem gelöst: Hatte sich Jimmy Wales bei Gründung der Wikipedia mangels Alternativen noch für die sehr komplizierte GNU Free Documentation License entschieden, schwenkt das Projekt nach einer Urabstimmung auf eine Creative-Commons-Lizenz über. Dadurch wird die rechtmäßige Weiternutzung von Wikipedia-Inhalten stark vereinfacht.

Ende des Jahres erreicht die deutschsprachige Wikipedia die Marke von einer Million Artikeln. Gleichzeitig sorgt das Lösch-Regime in der Wikipedia, die nur Artikelthemen gemäß der strengen Relevanzkriterien zulässt, für heftigen Streit. Berichte über einen massiven Autorenschwund weist Wikimedia aber zurück.

2010

Der Ausbau der Wikimedia Foundation läuft auf Hochtouren. Mehrere Stiftungen und Konzerne wie Google unterstützen den Aufbau der Wikimedia Foundation mit Millionenbeträgen. Die Haupt-Einnahmequelle bleiben weiterhin Kleinspender. Kamen bei der Spendenaktion 2009 noch 8 Millionen Dollar zusammen, ist es ein Jahr später schon der doppelte Betrag.

Aushängeschild der Wikipedia-Bewegung ist weiterhin Jimmy Wales. Doch um seine Rolle in der Community gibt es immer wieder Streit. Während seine Entscheidung, Informationen über einen Entführungsfall in der Wikipedia zu unterdrücken, im Jahr 2009 noch auf allgemeine Zustimmung gestoßen war, sorgt ein Streit um Pornografie in der Wikipedia zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Autoren und dem Gründer. Aus Furcht vor negativer Presse hatte Wales mehrere Hundert vermeintlich anstößiger Bilder löschen lassen. Ergebnis des Streits: Zwar blieb das befürchtete Presse-Echo aus, doch Jimmy Wales muss Privilegien abgeben. Die Wikipedia-Community emanzipiert sich weiter von ihrer Vaterfigur. (vbr)