Memex: Das "dritte Auge" hat Geburtstag

In seinem Aufsatz "As We May Think" beschrieb Vannevar Bush im Juli 1945 eine analoge Speichermaschine namens Memex (Memory Extender). Mit diesem Aufsatz wurde er zum großen Anreger der Idee vom Hypertext.

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Von
  • Detlef Borchers

Der II. Weltkrieg war in Europa bereits vorüber. In den USA befragte die einflussreiche Zeitschrift Atlantic Monthly für die Juli-Ausgabe 1945 Wissenschaftler wie Politiker nach einem Resümee und einem Ausblick. Man war Weltmacht geworden und was hatte man gelernt? Unter den Befragten war Vannevar Bush, einer der wichtigsten Technokraten beim OSRD, die im Krieg dafür sorgten, dass Forschung im großen Stil betrieben wurde und dass Ergebnisse schnellstens umgesetzt wurden. Er war als Forschungskoordinator am Manhattan Project als General der Physik beteiligt und an der Entwicklung neuer Radar-Technologien in Tuxedo Park wie bei der Fertigung von Impfstoffen, die sofort zu den kämpfenden Truppen geschickt wurden.

Doch an Stelle sich mit diesen für den anstehenden Kalten Krieg zentralen Technologien zu befassen, schrieb Vannevar Bush den Aufsatz As We May Think, scheinbar nahtlos an die Vorkriegszeit anknüpfend: Bush, der in der Nachkriegszeit damit beschäftigt war, die in der Rüstungsindustrie tätige Firma Raytheon zu gründen, griff auf einen Aufsatz zurück, den er am MIT im Sommer 1939 unter dem Titel "Mechanization and the Record" verfasst hatte. Dieser Aufsatz befasste sich mit der Archivierungstechnik des Mikrofilms, von der sich das mit Assoziationen und Verknüpfungsketten arbeitende menschliche Gehirn vollkommen unterscheidet. Sechs Jahre später beschrieb Bush in "As We May Think" eine analoge Speichermaschine namens Memex (Memory Extender). Mit diesem Aufsatz wurde der Technokrat zum großen Anreger der Idee vom Hypertext. So ist bekannt, dass Douglas Engelbart den Aufsatz las und sich von ihm für seine Forschung anregen ließ. Gleiches gilt für den Engelbart-Schüler Ted Nelson.

Bei seiner Beschreibung des Memex ignorierte Vannevar Bush den damaligen Forschungsstand zur Informationsverarbeitung, wie sie etwa von dem belgischen Bibliothekar Paul Otlet mit seinem Mundaneum angedacht war. Auch die Fortschritte in der Mikrofilm-Technik, die zu den Überlegungen von Emanuel Goldberg führten, waren nicht sein Thema. Sein Memex war nicht praktisch angelegt: spätere Versuche, einen Memex zu bauen, scheiterten. Nur eine Simulation funktioniert, die zum 50. Jubiläum des Aufsatzes erstellt wurde, sie basiert auf einer Illustration, die Zeichner des Magazines "Life" nach Gesprächen mit Bush Ende Juli 1945 anfertigten. Life druckte den Aufsatz dann im November 1945 nach und sorgte damit für eine weitere Popularisierung der Memex-Idee. Das Zyklopenauge des Memex-Benutzers, die jede Bewegung der Augen mitspeichernde Stirnkamera als drittes (Kunst-)Auge des Menschen tauchte alsbald in vielen Science-Fiction-Erzählungen auf.

Die Bedeutung des Memex liegt im radikalen Bruch mit der Idee vom Text. Im Brief, im Buch und mit Abstrichen selbst noch im Mikrofilm sind die textuellen Informationen für das Auge lesbar. Beim Memex ist das nicht mehr möglich. Wie bei der Datei auf einer Festplatte brauchen wir eine Maschine, ein drittes Auge, um an den Text zu kommen. Damit wurde der Weg frei für den Hypertext mit seinen Verknüpfungen und Verweisen. (Detlef Borchers) / (jk)