Agiles Manifest – zehn Jahre später

Die Protagonisten des Agile Manifesto konnten sich vor zehn Jahren sicherlich nicht vorstellen, welche Auswirkung ihre Arbeit auf die Softwareentwicklung haben würde. Dass die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, liegt in der Natur der Agilität begründet.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Jutta Eckstein
Inhaltsverzeichnis

Die 17 ITler, die sich vor zehn Jahren am 12. Februar in den Rocky Mountains getroffen hatten, konnten sich damals sicherlich nicht vorstellen, welche Auswirkung ihr Agiles Manifest auf die Softwareentwicklung haben würde. Dass die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, liegt in der Natur der Agilität begründet.

Erstaunlich ist auf jeden Fall, dass sich die 17 – übrigens alles weiße Männer mittleren Alters und vorrangig aus dem nordamerikanischen Raum – trotz ihrer großen Differenzen hinsichtlich einer optimalen Softwareentwicklung, tatsächlich in einem wichtigen Punkt einigen konnten: die inhärenten Grenzen des menschlichen Geistes zu respektieren und sich der Aufgabe als bescheidene Programmierer anzunähern, wie Andy Hunt das in Anlehnung an Ed Dijkstra in der Rückbetrachtung ausdrückte.

Natürlich diskutierten die Protagonisten in Snowbird (Utah) viele widersprüchliche, aber auch sich ergänzende Perspektiven zu den Themen Code, Modelle und den Menschen. Statt sich daran zu versuchen, die einzig wahre Softwareentwicklungsmethode und -technik zu definieren, legten sie schließlich den Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten. Dafür war die Namensfindung "Agile Manifesto" nicht unerheblich. Ursprünglich kamen sie als Vertreter "leichtgewichtiger" Methoden zusammen, aber diese bis dahin für agile Softwareentwicklung übliche Bezeichnung erschien doch allen als zu leichtgewichtig im Sinne von zu unerheblich. Wie James Grenning betont, ist der Vorteil des Begriffs agil von großer Bedeutung: Einerseits möchte jedes Unternehmen sowieso agil sein und andererseits kann man seinem CEO oder Kunden relativ einfach davon überzeugen, dass man agil sein möchte – was schwieriger bis unmöglich wird, wenn man dieselben Menschen davon überzeugen möchte, dass man in Anlehnung an Extreme Programming (XP) zukünftig "extrem" sein möchte.

Auch wenn leicht der Eindruck entsteht, dass mit dem agilen Manifest agile Softwareentwicklung erfunden wurde – kann davon jedoch keine Rede sein. Der große Gewinn des agilen Manifests beziehungsweise des Begriff der agilen Softwareentwicklung war (und ist), dass es nun endlich einen Ausdruck für ein Wertesystem gab, das eine Vorgehensweise umfasst, die viele ITler (inklusive der Vertreter in Snowbird) zur Entwicklung von Software schon lange verwendeten. Dave Thomas betont in seinem Rückblick, dass dieses Wertesystem beziehungsweise diese Vorgehensweise bereits vor 25 Jahren bei Xerox PARC angewandt wurden. Das heißt, der Hauptgewinn und damit auch ein Grund für den nachfolgenden Zuspruch waren, dass es nun endlich einen Namen gab für eine ohnehin sinnvolle Art der Softwareentwicklung.

Die Autorin erinnert sich noch genau an ihren ersten Eindruck, als sie auf der OOPSLA 1997 in Atlanta zum ersten Mal von Scrum und XP hörte: Na klar, das ist doch die "natürliche" Art, Software zu entwickeln. Wobei zugegeben sei, dass sie zum damaligen Zeitpunkt hauptsächlich Software in Smalltalk entwickelte und sich eingehend mit Patterns beschäftigte. Denn, ob Zufall oder nicht, die meisten Vertreter, die in Snowbird zusammenkamen, waren einerseits Smalltalk-Entwickler und andererseits in der Welt der Patterns zu Hause. Daher war der Zugang für die Autorin auch "natürlicher". Die Verankerung in den Patterns verdeutlicht zudem, dass XP bereits 1996 und Scrum dann 2000 zunächst in Form von Patterns veröffentlicht wurden (siehe [1][2]).

Die Startseite des Agilen Manifests, wie sie sich auch nach zehn Jahren noch zeigt

(Bild: agilemanifesto.org)

Im Folgenden sei nun nicht auf das Wertesystem und die Prinzipien eingegangen, das geschah schon des Öfteren an anderer Stelle. Dafür sei herausgestellt, was einige der Autoren des Manifests als Kern betrachten. Beispielsweise meint Andy Hunt, dass es das Wesentliche bei einer agilen Vorgehensweise sei, sich in kleinen Schritten voranzutasten, nicht zu viel auf einmal zu wollen oder sich durch Annahmen zu weit nach vorne zu lehnen. Weiterhin sollen Programmierer das Erstellte verifizieren und dabei ihrem eigenen Können misstrauen. Darüber hinaus fordert er von ihnen, die nächsten Schritte offen und ehrlich zu diskutieren und nicht von der Annahme auszugehen, dass sie etwas besser wüssten als andere.

Für Ward Cunningham steht im Mittelpunkt agiler Softwareentwicklung, dass die Entwickler zusammen programmieren, gemeinsam über ihre Erfahrung reflektieren und aus dieser Erfahrung heraus einen neuen Sprachschatz erlernen – einen Sprachschatz, der auf Patterns und Zusammenarbeit basiert.

Wenn auch viele Teams schon vor mehr als 25 Jahren die agilen Werte berücksichtigten, gab es auf der anderen Seite nicht wenige Teams, die beispielsweise kein Versionskontrollsystem verwendeten, sondern sich nur auf die Sourcecode-Dateien innerhalb eines gemeinsamen Laufwerks verließen – nach dem Motto: "Der Letzte gewinnt." Solch eine Arbeitsweise ist heute nicht mehr weit verbreitet. Hunt ist der Ansicht, dass es ein großer Gewinn der agilen Softwareentwicklung sei, dass Unit-Tests und deren Varianten zunehmend akzeptiert und eingesetzt würden und selbst Pair Programming, was oft kritisch beäugt wurde, nicht mehr als so furchteinflößend gelte wie früher. Das heißt, viele mit agilen Vorgehensweisen eingeführte Werkzeuge und Entwicklungspraktiken sind heute "state of the art", und zwar sogar unabhängig davon, ob man (vorgeblich) agil entwickelt oder nicht. Ron Jeffries fasst die Leistung des Manifests sogar noch wesentlich weiter: Sie hätten etwas Großartiges geschaffen und nebenbei die Welt, gemeint ist wohl die der Softwareentwicklung, verändert.

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass agile Vorgehensweisen von Entwicklern fordern, sich umzustellen, und zwar sowohl hinsichtlich der von ihnen eingesetzten Tools als auch der Entwicklungsmethoden. Viel gravierender ist jedoch laut Ken Schwaber, dass sie eine Umstellung der Fähigkeiten, Überzeugungen und Gewohnheiten fordern. Insofern betont Schwaber, dass das agile Manifest eine leise Revolution in der Hinsicht war, dass Mitarbeiter nicht länger als Ressourcen betrachtet wurden. Stattdessen gilt, wie der Konzern IBM das in seinem Slogan sagt: "Die Menschen sind unser wertvollstes Gut". Schwaber übersetzt das mit "Wir sind das Volk". Damit geht einher, was Cunningham betont, nämlich dass durch das Manifest die Programmierer eine neu entdeckte Reputation für ihre Arbeit erlangten.

Allerdings sei eingeräumt, dass die bessere Reputation nur innerhalb der IT wahrgenommen wird. Das Image des Informatikers ist in den letzten Jahren eher schlechter geworden. Viele Universitäten kämpfen damit, Studenten für das Fach Informatik zu gewinnen. Aber eventuell liegt das auch an den noch offenen Punkten, auf die im Folgenden eingegangen sei.