Tatort Zukunft

Polizei, Militär und Unternehmen setzen zunehmend auf das sogenannte „Predictive Modeling“ – die Vorhersage von Ereignissen mithilfe von Software-Modellen. Was steckt hinter dem modernen Orakel?

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Niels Boeing
  • Evan I. Schwartz
  • Tom Simonite

Polizei, Militär und Unternehmen setzen zunehmend auf das sogenannte „Predictive Modeling“ – die Vorhersage von Ereignissen mithilfe von Software-Modellen. Was steckt hinter dem modernen Orakel?

Der massige Zweckbau in der 201 Poplar Avenue gibt sich verschlossen: Nur wenige Fenster lockern die Fassade aus braunem Klinker auf. Aber die Beamten des Real Time Crime Center sind bestens im Bilde, was in ihrer Stadt vor sich geht. Unablässig laufen auf riesigen Videowänden die Aufnahmen der Überwachungskameras ein. Plötzlich blinkt auf einem Stadtplan ein roter Punkt auf: An einer Straßenecke bahnt sich eine gefährliche Situation an. Der diensthabende Polizist schickt einen Streifenwagen los, um potenzielle Übeltäter in flagranti zu erwischen. Vielleicht gelingt es der Streife, den Ort zu erreichen, bevor es überhaupt zu einer Straftat kommt.

Was wie eine Szene aus dem Science-Fiction-Thriller „Minority Report“ klingt, ist seit 2005 Polizeialltag in Memphis im US-Bundesstaat Tennessee. Mit Stephen Spielbergs Blockbuster habe die Arbeit des Real Time Crime Centers (RTCC) nichts zu tun, versichert Larry Godwin, Polizeipräsident von Memphis. Niemand werde wie ihm Film präventiv verhaftet. Ebenso wenig gibt es im RTCC Psychomutanten, die – von Drogen sensibilisiert – einen Blick in die Zukunft werfen und so der Polizei Bilder von künftigen Verbrechen liefern können. Stattdessen arbeitet dort die IBM-Software „Blue Crush“. Das Akronym Crush steht für „Criminal Reduction Utilizing Statistical History“, die Verringerung von Straftaten mittels statistischer Datenauswertung.

Das Programm ermittelt für ausgewählte Orte die Wahrscheinlichkeit von Einbrüchen, Drogengeschäften, Bandenkriegen oder anderen illegalen Aktivitäten. Als Grundlage dienen ihm Daten aus der Kriminalitätsstatistik, Wettervorhersagen, ökonomische Indikatoren sowie Informationen über öffentliche Ereignisse wie Konzerte oder auch Zahltage. „Das öffnet Ihnen in Ihrem Revier die Augen“, schwärmt Godwin. „Sie können buchstäblich wissen, wo Sie Ihre Beamten zu einem bestimmten Zeitpunkt positionieren müssen.“ Seit die Software 2005 eingeführt wurde, sei die Kriminalitätsrate von Memphis um 30 Prozent gesunken. Ähnliche Erfolgsquoten sind auch aus anderen Städten in den USA und Großbritannien zu hören, deren Polizeidienste auf die Prognosesoftware setzen.

Der Wunsch, einen Blick in die Zukunft zu erhaschen, ist so alt wie die menschliche Zivilisation selbst – und bislang unerfüllt geblieben. Doch was unter Drogen gesetzte Orakel, Tieropfer, Kristallkugeln oder Tarotkarten in Jahrtausenden nicht schafften, wird nun dank der Technologie des „Predictive Modeling“ zumindest in Ansätzen möglich. „Daran ist nichts Magisches“, sagt Paolo Gaudiano, Mathematiker und Technologie-Vorstand der US-Beratungsfirma Icosystem. „Man macht sich die Fähigkeit von Computern zunutze, die reale Welt als Daten abzubilden, um dann zu schauen, was passiert, wenn die Welt um uns herum sich ändert.“

Als Predictive Modeling werden Rechenverfahren oder Algorithmen bezeichnet, die man auf bekannte Daten aus der Vergangenheit anwendet in der Hoffnung, sinnvolle Aussagen über die Zukunft zu erhalten. Ursprünglich aus der Forschung über künstliche Intelligenz stammend, lassen sich derartige Algorithmen auch für Probleme nutzen, für die in früheren Zeiten Wahrsager zu Rate gezogen wurden: etwa die Frage, ob eine Person der Mann oder die Frau fürs Leben sein könnte.

Die Partnerbörse eHarmony beispielsweise hat mit einem neuen Maschinenlern-Algorithmus die Zahl der Singles, die miteinander anbändeln, innerhalb von zwölf Monaten um ein Drittel steigern können. Zuvor war eHarmony jahrelang einem Ansatz gefolgt, der ausschließlich auf der Befragung von verheirateten Paaren basiert. Dabei wurden in einem Fragebogen 29 „Persönlichkeitsdimensionen“ erfasst, von denen man annahm, dass sie für eine glückliche Partnerschaft wichtig sind. Anhand dieser Eigenschaften sowie von persönlichen Vorlieben hinsichtlich Religion, Alter oder Wohnort schlug eHarmony seinen Kunden dann täglich neue Partner für eine Kontaktaufnahme vor, bei denen die Kategorien am stärksten übereinstimmten.

Im neuen Verfahren werden einer Person hingegen Datensätze aus Hunderten von Datenpunkten zugeordnet, die neben Interessen auch Login-Zeiten, Websuchen, Surfverhalten oder Konversationen mit anderen umfassen. Sie berücksichtigen damit auch das tatsächliche Verhalten ... (nbo)