Bundesregierung setzt Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke aus

Die Sicherheit aller deutschen Atomkraftwerke solle angesichts der Erkenntnisse nach der Katastrophe in Japan neu überprüft werden. Während eines dreimonatigen Moratoriums könnten ältere Kraftwerke abgeschaltet werden.

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Von
  • Jürgen Kuri

Die Bundesregierung setzt die Verlängerung der Laufzeit, die die schwarz-gelbe Koalition im vergangenen Jahr für die deutschen Atomkraftwerke beschlossen hatte, nach der Katastrophe in Japan aus. Am Nachmittag werde Bundeskanzlerin Merkel dies verkünden, hat der Focus nach eigenen Angaben aus Regierungskreisen erfahren. Was dies im Detail bedeutet, wird wohl derzeit noch zwischen CDU und FDP ausgehandelt. Während der Auszeit soll die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke unter Berücksichtigung der Notfälle in japanischen Kraftwerken nach dem Erdbeben überprüft werden. Merkel will das Moratorium und was es im Einzelnen bedeutet noch am heutigen Montagnachmittag verkünden.

Bereits zuvor hatte der Bundesaußenminister und FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle davon gesprochen, ein Aussetzen der Laufzeitverlängerung sei möglich. Eine Expertenkommission solle eine Risikoanalyse der Atomkraftnutzung in Deutschland nach den Ereignissen in Japan vornehmen. Auch könnten einzelne Atomkraftwerke, die den Sicherheitsanforderungen nach Auswertung der Erkenntnisse aus Japan nicht entsprächen, sofort abgeschaltet werden.

Die Industrie allerdings sieht die aktuelle Situation natürlich ganz anders: So betonte etwa der Energiekonzern RWE, solche Katastrophen wie in Japan seien hierzulande nicht zu erwarten. Der Opposition geht die Aussetzung dagegen nicht weit genug, sie kritisierte das Vorhaben bereits als durchsichtige Wahltaktik, die besonders auf die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg gezielt sei. Sowohl SPD als auch Grüne forderten die Rückkehr zum ursprünglichen Vertrag über den Ausstieg aus der Atomkraft.

Die rot-grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder hatte im Jahr 2000 den Ausstieg aus der Kernernergie mit den Energiekonzern vertraglich geregelt. Im Herbst 2010 beschloss dagegen die schwarz-gelbe Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel den "Ausstieg aus dem Ausstieg": Eine Verlängerung der Laufzeiten einzelner bestehender Atomkraftwerke um 8 Jahre bei alten Anlagen beziehungsweise um 14 Jahr bei neueren Anlagen solle dem Charakter der Atomkraft als sogenannte Brückentechnologie beim Übergang zu erneuerbaren Energien Rechnung tragen. Kritiker bemängelten aber unter anderem, dass durch die Laufzeitverlängerung gerade die notwendigen Milliardeninverstitionen in intelligente Stromnetze unterblieben, die für eine mehrheitliche Versorgung mit erneuerbaren Energien notwendig seien.

Auch die Schweiz legte nach den Ereignissen in Japan vorerst alle Pläne für neue Atomkraftwerke auf Eis. Zunächst wolle man alle Sicherheitsstandards prüfen und gegebenfalls anpassen, erklärte die Leiterin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, Doris Leuthard. Zudem leitete das Eidgenössische Nuklear-Sicherheits-Inspektorat (ENSI) bei den bestehenden Kraftwerken eine vorzeitige Sicherheitsüberprüfung ein.

[Update]:
Bundeskanzlernin Angela Merkel gab mittlerweile öffentlich die Aussetzung der Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke bekannt. Es handele sich um ein Moratorium, das für drei Monate gelte. Auf die friedliche Nutzung der Kernenergie als Brückentechnologie könne man weiterhin nicht verzichten, betonte Merkel. Es sei aber kein leeres Wort, wenn sie sage, dass man Angesichts der Ereignisse in Japan nicht einfach zur Tagesordnung übergehen könne. Denn sie lehrten, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten werden, doch nicht ganz auszuschließen seien.

"Alles gehört auf den Prüfstand", erklärte Merkel. Die neue Lage müsse umfassend und rückhaltlos analysiert werden, und erst wenn dies erfolgt sei, könne man weitere Entscheidungen fällen. Die Bundesregierung habe am Samstag eine neue Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Atomkraftwerke angeordnet, diese werden "ergebnisoffen" stattfinden, wenn sie abgeschlossen sei, werde man die Konsequenzen ziehen. "Die Zeit nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Zeit davor", versicherte Merkel.

Die Kanzlern erklärte auf Nachfrage während der Pressekonferenz auch, das Moratorium bedeute natürlich, dass Atomkraftwerke jetzt abgeschaltet würden, wenn sie nach dem ursprünglichen Ausstiegsvertrag derzeit keine Restlaufzeiten mehr hätten. Davon könnten laut Spiegel die Kraftwerke Biblis A in Hessen und Neckarwestheim I in Baden-Württemberg betroffen sein. In Baden-Württemberg finden am 27. März Landtagswahlen statt.

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

  • Der Alptraum von Fukushim, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur Erschütterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".

(jk)