Atomstrom, ja bitte!

Wenige Tage nach dem Erdbeben in Japan hatte die Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima sogar den Atomstrommeister Frankreich kurz aufgeschreckt. Doch die Aufregung währte nicht lange.

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  • Kerstin Löffler

Wenige Tage nach dem Erdbeben in Japan hatte die Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima sogar den Atomstrommeister Frankreich kurz aufgeschreckt. Doch die Aufregung währte nicht lange.

Wenige Tage nach dem Erdbeben in Japan hatte die Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima sogar den Atomstrommeister Frankreich kurz aufgeschreckt. "Muss man Angst vor der Atomkraft haben?", fragten Zeitungen auf dem Titelblatt besorgt, und grüne Politiker forderten eine öffentliche Diskussion über die Kernenergie. Im Anschluss daran sollten die Franzosen per Volksentscheid über einen möglichen Atomausstieg abstimmen, sagte etwa der Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit – aber in einem Land, das knapp vier Fünftel seiner Energie aus Atomkraftwerken bezieht, glauben die Kernkraftgegner selber nicht, dass ein Ausstieg in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren möglich sei.

Als die Dachorganisation "Sortir du nucléaire" ("Atomausstieg") in der ersten Woche nach dem Kraftwerksunglück in Japan zu einer Kundgebung in der französischen Hauptstadt Paris aufrief, fanden sich rund dreihundert Atomkraftgegner am Eiffelturm ein. Das war es im Großen und Ganzen mit der öffentlichen Diskussion.

Die deutsche Aufregung und das eilige Abschalten von Kraftwerken sorgt in Frankreich allenfalls fĂĽr mitleidiges KopfschĂĽtteln. Atomkraft ist die "Energie der Zukunft", das predigt Staatschef Nicolas Sarkozy seinen Landsleuten auf Schritt und Tritt. Zumindest in diesem Punkt herrschte unter den wechselnden Regierungen der vergangenen Jahrzehnte, egal welcher politischen Couleur, stets Einigkeit: Ohne Kernkraft geht es nicht.

Der französische Stromriese EDF (Electricité de France) betreibt 58 Atomreaktoren an 19 Standorten, die meisten von ihnen gingen in den 80er Jahren ans Netz. In Flamanville am Ärmelkanal baut Frankreich gerade seinen ersten Europäischen Druckwasserreaktor (EPR). Er soll, mit einiger Verspätung, in drei Jahren ans Netz gehen und die dritte Generation des Atomparks einleiten.

An dieser Energiepolitik ändere sich auch nach der Katastrophe in Fukushima nichts, stellte Sarkozy bereits klar. Die Atomenergie ist und bleibe "das grundlegende Element" der französischen Energie-Unabhängigkeit. Selbst das älteste französische Kernkraftwerk, im elsässischen Fessenheim, ist nach Ansicht der französischen Atomindustrie noch gut in Schuss. Die seit 1977 laufende Anlage abzuschalten sei geradezu so, "als ob man über 20 Jahre alte Häuser in Paris abreißen wollte", sagte EDF-Chef Henri Proglio dieser Tage. Oder "als ob man nach einem Flugzeugabsturz kein Flugzeug mehr starten lassen würde", wie die Zentrumspartei NC anmerkte.

Ohnehin wäre dem supermodernen EPR am Ärmelkanal auch bei einem Erdbeben und einer darauffolgenden Flutwelle wie in Fukushima nichts passiert, behauptet Anne Lauvergeon, Chefin des staatlichen Atomkonzerns Areva, der den EPR zusammen mit Siemens entwickelte. Aus dem Europäischen Druckwasserreaktor hätte keinesfalls Radioaktivität entweichen können, "ganz gleich in welcher Situation", versichert die auch als "Atomic Anne" bekannte mächtigste französische Atommanagerin

Eine Einschätzung, die für den Energieexperten Mycle Schneider "nicht zu fassen" ist. Zum einen wisse derzeit niemand, wie die beschädigten japanischen Reaktoren im Inneren aussähen, sagt Schneider, der Träger des Alternativen Nobelpreises ist und sowohl die deutsche als auch die französische Regierung über mehrere Jahre hinweg beriet. Japanische Experten gingen aber davon aus, dass bereits nach dem Erdbeben im Nordosten Japans "massiv" Kühlwasser aus dem Primärkreislauf der Reaktoren ausgetreten sei – deshalb greife im Übrigen auch das in Frankreich gern vorgebrachte Argument der Atombefürworter nicht, es gebe hierzulande keine Tsunamis. Zum anderen habe auf der ganzen Welt "noch nie jemand auch nur für ein paar Minuten" einen EPR in Betrieb gehabt, betont Schneider. Der weltweit erste Reaktor dieses Typs entsteht derzeit in Finnland, er soll in zwei Jahren ans Netz gehen.

Dass es in Frankreich auch nach Fukushima keine breitere Diskussion über die Atomkraft gibt, wundert den Energiefachmann nicht. Der "ultra-zentralisierte" französische Staat sei nicht zu vergleichen mit Deutschland – in Frankreich habe der Staat die Energiepolitik nach dem Zweiten Weltkrieg in die Hand einer "Technokratenelite" gelegt, erklärt Schneider. Alle wesentlichen Posten in der Branche würden mit Absolventen des "Corps des Mines" besetzt, eines staatlichen Kaders von Eliteingenieuren. Von der Areva-Chefin über Abteilungsleiter des Kraftwerksbetreibers EDF und Energieberater des Staatschefs bis zum Leiter der französischen Atomaufsichtsbehörde ASN, sämtliche Entscheidungsträger der Branche gehören "der gleichen Truppe" an, wie Schneider sagt. Eine universitäre oder unabhängige Expertise im Bereich Energiepolitik wurde nie aufgebaut.

Dennoch hält der Energieexperte "den Mythos der atomfanatischen Franzosen" für falsch. Dass die Atompolitik immer eine Sache des Staates und des "Corps des Mines" gewesen sei, heiße nicht, "dass die Bevölkerung für Atomstrom ist". Vielmehr hätten langfristige Untersuchungen gezeigt, dass die kritische Meinung in den vergangenen 15 Jahren um zehn Prozent zugenommen habe. Die der Kernkraftbefürworter blieb dagegen gleich, so dass beide Auffassungen – bis Fukushima – praktisch gleichauf lagen. Dass die Franzosen eines Tages so entschlossen gegen Atomkraft auf die Straße gehen werden wie ihre deutschen Nachbarn ist trotzdem schwer vorstellbar. (wst)