Virtuelles Crowd-Management

Eine Modellierungssoftware nutzt neuartige Algorithmen, um Orte weniger anfällig für Unglücke wie Massenpaniken zu machen.

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Von
  • Erica Westly

Eine Modellierungssoftware nutzt neuartige Algorithmen, um Orte weniger anfällig für Unglücke wie Massenpaniken zu machen.

Wissenschaftler und Planer untersuchen schon seit längerem mit Computerhilfe das Verhalten von Menschenmassen, um Gebäude und andere öffentliche Orte bei Notfällen sicherer zu machen. Bislang hat dieses virtuelle Crowd-Management aber noch Lücken, die eingesetzte Planungssoftware ist nicht perfekt.

Forscher an der ETH Zürich und der Universität Paul Sabatier in Toulouse haben nun ein neuartiges Modellierungssystem entwickelt, das auf einem einzelnen kognitiven Hauptfaktor basiert – dem Sehsinn. Damit lässt sich das Verhalten von Passanten in verschiedenen Umgebungen erstaunlich genau vorhersagen. Rein auf Kenntnissen aus der Physik aufbauende Modelle könnten so überflügelt werden.

"Es gab bislang noch keine klare Möglichkeit, die kognitiven Prozesse jeder Einzelperson in einer Menschenmasse zu beschreiben, doch dieser visuelle Ansatz macht die Sache ziemlich leicht", sagt ETH-Forscher Dirk Helbing. Er führte das Projekt zusammen mit Mehdi Moussaid und Guy Theraulaz von der Universität Paul Sabatier durch.

Die Studie wurde von früheren Forschungsarbeiten inspiriert, bei denen Eye-Tracking-Daten verwendet wurden, um zu bestimmen, wie Menschen die Flugbahn eines Balls vorhersagen, um ihn zu fangen. Mehrere andere Studien legen nahe, dass auch das Gehen sehr stark vom Sehsinn bestimmt wird. Helbing und seine Kollegen stellten deshalb die Hypothese auf, dass sich mit visuellen Faktoren, darunter Blickrichtung und Sichtfeld einer Person, ein besseres Modell des Verhaltens von Menschenmassen ergibt.

Die Forscher programmierten die Mitglieder der virtuellen Menschenmenge so, dass sie ihre Umgebung "sehen" konnten und entsprechend navigierten. Das funktionierte sowohl bei großen als auch bei kleinen Simulationsaufbauten. Wichtig dabei war allerdings, dass der physische Einfluss der Menge als Ganzes ebenfalls berücksichtigt wurde.

Die Ergebnisse legen nahe, dass sich Katastrophen wie jene bei der Loveparade in Duisburg, durch ein besseres Crowd-Management vermeiden ließe, das auf solchen Modellen basiert. Diese können Planern zeigen, wie sich Menschen durch einen vorgegebenen Ort bewegen, wenn es zu einer Panik kommt.

Die Forscher demonstrierten, wie das Sichtfeld Richtung und Geschwindigkeit von Fußgängern beeinflusst – zwei Kräfte, die oft zueinander in Konkurrenz stehen. Um die Genauigkeit des Modells zu testen, wurde zunächst vorhergesagt, welche Laufrichtung die einzelnen Mitglieder einer virtuellen Menschenmasse nehmen würden. Anschließend wurde dies mit Echtdaten verglichen. Die Abläufe ähnelten sich stark.

Um eine Massenpanik zu modellieren, mussten Helbing und seine Kollegen aber nicht nur "freiwillige" Bewegungen, sondern auch unfreiwillige einkalkulieren, etwa wenn Menschen geschubst werden. Was die Fußgänger sehen können, bleibt zwar wichtig, doch die "Push and Pull"-Effekte einer Menschenmasse können dies noch überflügeln. "Wenn es zu einer hochdichten Menge kommt, reicht das einfache Modell nicht mehr aus", sagt Theraulaz. Physikalische Aspekte spielten dann eine Rolle.

Diese Kräfte in Ergänzung zur Nutzung der Sehsinn-basierten Modellierung erlaubten einen Überblick, der das Verhalte von Menschen in verschiedenen Situationen zeigte – etwa, wenn sich ein Hindernis aufbaut oder Teilmengen umzufallen beginnen.

Angewendet auf eine echte Massenpanik ließ sich so vorhersagen, wo die risikoreichsten Bereiche in der Menge sind und wie sich Zusammenstöße verteilen, sobald die Situation kritisch wird. "Dies ist dann der gefährlichste Fall. Man kann zwar später eine Videoanalyse durchführen, doch es ist schwierig, zu sehen, was genau passiert. Die Menschen bewegen sich dann kaum mehr", sagt Helbing

Einer der größten Vorteile des neuen Modells ist seine Flexibilität. Michael Batty, Stadtplanungsforscher am University College London, meint, dass es sich auf eine ganze Reihe von Situation anpassen lasse. "Das führt dazu, dass man es besser testen kann als andere." Helbing und sein Team erwägen nun, das Modell auch in Roboternavigationssysteme einzubauen, die dann Menschenmassen navigieren könnten. (bsc)