Neues aus der Gähntechnik

Ein leiser Überdruss, wie man ihn schon in Second Life empfinden durfte, schleicht sich bei Facebook ein.

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Von
  • Peter Glaser

Ein leiser Überdruss, wie man ihn schon in Second Life empfinden durfte, schleicht sich bei Facebook ein.

Was macht die Netzpermanenz, die Twitter- und Facebook-Timeline, mit der Realität? Für den gewöhnlichen Nachrichtenkonsumenten ist es nur von beschränkter Bedeutung, ob er eine Viertelstunde früher oder später erfährt, dass Osama Bin Laden erwischt worden ist oder der Weltuntergang an uns vorbeizieht. Der Echtzeitstrom, dessen souveräne Handhabung die Nutzer gerade lernen, setzt die Nachrichtenmedien unter immer größeren Aktualitätsdruck. Die Wirklichkeit läuft Gefahr, zwar nicht verfälscht, aber deformiert zu werden. Hochgejazzt. Die Dinge geschehen nicht mehr nur einfach und man berichtet von ihnen, sondern nebenan, einen Klick weiter, schreien sie lauter als wir, also müssen wir richtig Alarm machen. An die Tippfehler, beim Löschen vergessenen Textdopplungen undsoweiter hat man sich in vielen Online-Angeboten, gewissermaßen als Folge des digitalen Fahrtwinds, fast schon gewöhnt.

Aus anschwellenden Nebenflüssen fließen die News nun in windgeschützte Areale der neuen Welt: in die sozialen Netze, in denen alle Weggefährten (bei Twitter) oder Freunde (bei Facebook) sind, und eigentlich niemand etwas verkaufen oder kaufen möchte, weil das die nette Atmosphäre nur stören würde. Wir alle, die teilnehmen an dem großen Gesumm, sind kleine Honigbienen, die ihre winzigen, süßen Datentröpfchen zu den Zuckerbergs dieser Erde bringen und dafür Zugang zu einer weltweiten WG erhalten, aus der es keinen Weg mehr nach draußen gibt. Gefällt mir.

Entwickelt Facebook sich zu einem Netz im Netz, einem proprietären System? Das Ganze hat bereits beachtliche Dimensionen erreicht. Es ist ohne Frage ein weiterer Versuch, eine globale Schneekugel zu errichten – transparent, aber geschlossen. Diese Bestrebungen tauchen im Netz in Wellen auf, ein Riesenbrecher etwa war America Online in den 1990er Jahren, ein weiterer im neuen Jahrtausend Second Life, abgeschottet, ein Bastelkasten für neue Welten, die aber, statt phantastisch zu sein, vor allem banal waren.

Die Turn-Around-Zyklen im digitalen Universum sind ziemlich kurz. Mit der PC-Revolution verlor IBM, das mit Abstand größte Computerunternehmen der Welt, Anfang der 90er Jahre seine Marktmacht an die Konkurrenz. Zehn Jahre später ging es mit AOL, kurz nachdem das Unternehmen den weltgrößten Medienkonzern Time Warner gekauft hatte, im freien Fall abwärts. Die User wollten nicht mehr mit Stützrädern online sein. Alle hatten sie schon gehört von dem großen weiten wilden Netz, da wollten sie hin. Und da wollen sie auch in Zukunft hin, das kann Facebook ebenso schnell zu spüren bekommen wie Second Life. Ein leichter Überdruss ist schon zu spüren, bei Vielen sind die Frische und Experimentierfreude der ersten zwei, drei Jahre verflogen.

Dazu kommt, dass sich mit zunehmenden Kontakten herausstellt, dass Facebook kein gutes Instrument zum nervenschonenden Umgang mit einem größeren Schwung Menschen ist. Das Gewühl, das man trotz Listen und sonstiger sonderbarer Sortiermethoden vor sich am Bildschirm sieht, hat nichts mit dem wohligen Gewühl einer Kneipe zu tun, durch das man sich gern drängelt. Die Facebook-Timeline ist eine Kakophonie. It's a mess. Ich vergesse auch immer wieder, zu antworten, wenn jemand mich bei Facebook anschreibt, weil ich dieses interne Dosentelefon nicht als E-Mail ernstnehmen kann. Vor allem will ich nicht wieder so wie früher hier und da und dort E-Mail-Accounts lesen müssen; einer reicht. Und das ist nicht Facebook. Ich bin davon überzeugt, dass es ein sehr starkes Bedürfnis nach einem freien, offenen Netzzugang gibt, der sich letztlich durchsetzen wird.

Man sollte weder Twitter noch Facebook, noch Social Media insgesamt überschätzen. Was beispielsweise den arabischen Aufbruch angeht, sind soziale Medien nicht ursächlich daran beteiligt gewesen, sie haben bestimmte Dinge aber bestärkt und beschleunigt – darüber besteht kein Zweifel. 2008 hat Mark Zuckerberg prophezeit, die Menschen würden künftig jedes Jahr doppelt so viele Informationen preisgeben, wie im Jahr zuvor. Das empfinde ich als eine moderne Form von Totalitarismus. Zuckerberg kontrolliert ein Kommunikationssystem, das etwa 600 Millionen Menschen benutzen, und wir wissen, dass die Technik auch die Beziehungen der Menschen verändert. Zuckerberg rechnet mit der Bequemlichkeit der Menschen – und mit einer Angst, die nur ein geschlossenes System produzieren kann: der Angst, ausgeschlossen zu sein. (bsc)