Schnellweile

Warum soll man sich langweilen, wenn’s kleinteiliger und flotter geht? Der Trailer ist nun bereits der Hauptfilm.

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Von
  • Peter Glaser

Warum soll man sich langweilen, wenn’s kleinteiliger und flotter geht? Der Trailer ist nun bereits der Hauptfilm.

Es öffnen sich ständig neue Kommunikationskanäle, die unser Zeitkontinuum zunehmend poröser machen. Von überall her sickern Unterbrechungen ein, Abzweigungen tun sich auf, eine Unendlichkeit an Ablenkungen. Die Kanalvielfalt hat sich ins Millionenfache erweitert. Es werden nicht mehr wenige Angebote lange genutzt, sondern viele kurz.

Eine Antwort auf die Frage, wie man dieser Übermengen an Kommentaren, Information und Nützlichkeiten Herr werden kann, lautet: durch kulturelle Mikrostrategien. Der Ring des Nibelungen war gestern – die Kulturindustrie hat die Welt der Schnipsel, Sinnpartikel, Tracks und Daseinssplitter entdeckt. Am Beispiel von Mikrokulturformen wie SMS, Twitter, Klingeltönen oder Videoclips wird deutlich, dass man auch mit kleinen Fitzelchen groß rauskommen kann.

Bis das Netz in Echtzeit fließt, wird es noch ein paar Jahre dauern. Das ist die große Chance für Angebote, mit denen sich die kleinen Lücken okkupieren lassen, in denen wir uns "schnellweilen" – also zeitgemäß in Minuten- oder Sekundenhäppchen langweilen. Diese kleinen Leeren lassen sich mit Lust und Leben füllen. Diese Lücken zu füllen, ist inzwischen, betrachtet man etwa ein Instrument wie Facebook, eine Schwerindustrie geworden

Zu den Pionieren der Partikulatisierung gehören die Residents, angeblich die rätselhafteste Band der Welt. Bereits 1979 veröffentlichten sie ihr Commercial Album mit 42 jeweils exakt 60 Sekunden langen Stücken. Im Jahr darauf stellte Morgan Fisher auf der LP Miniatures 51 Minimeisterwerke zusammen, darunter eine Geschichte des Rock'n'Roll in 60 Sekunden, ein von Pete Seeger auf dem Banjo gespieltes Schnipsel aus Beethovens Neunter und Ken Ellis "Eine Minute aus dem Leben des Iwan Dennisowitsch".

Die kalifornische Cartoonistin Jennifer Shiman und ihre Angry Alien Production liefern mit ihrer 30-Second Bunnies Theatre Library Kürzestfassungen bekannter Hollywoodfilme – gespielt von einer Truppe von Trickfilmhasen. Ihre Freunde von der britischen Reduced Shakespeare Company haben sich, nach einer halbstündigen Kurzfassung von Wagners "Ring" und höchstverdichteten Versionen von Shakespeare (hier: Macbeth), der Bibel und der Geschichte Amerikas die Arbeit an einer 20-Minuten-Kompliation des "Star Wars"-Epos vorgenommen, das im Kino 13 Stunden dauert.

Der Ambient-Künstler Aaron Ximm offeriert in seinem Projekt Quiet American Ferien in Molekülgröße: "Nehmen Sie einen Ein-Minuten-Urlaub von dem Leben, das Sie kennen. Seien Sie 60 Sekunden lang woanders. Und jemand anderes." Der Vielreisende Ximm (hier das Projekt auf Facebook) stellt seit drei Jahren akustische Ambientes ins Netz – eine kalte Nacht im burmesischen Kalaw etwa, Nebelhörner am China Beach in San Francisco, das Treiben in einem Bowling-Club auf Long Island.

Die Öffentlichkeit verwandelt sich in eine Schnipselwelt. In kulturellen Quantenschaum. Die Idee des Albums zum Beispiel, die mit Schallplatten und CDs verbunden war – heute zieht man sich einzelne Tracks aus dem Netz. Ähnliches widerfährt gerade den bewegten Bildern. Die wahre Gefahr für ihre Filme haben die Hüter Hollywoods noch gar nicht erkannt: Es sind nicht illegale Kopien von Kinofilmen im Internet, sondern die, sozusagen, Mikro-Filme.

Nur fĂĽnf Prozent aller amerikanischen Nutzer von Online-Videos haben schon einmal einen Kinofilm ĂĽber das Internet gekauft. Sieben von zehn Nutzern dagegen schauen sich kurze Clips an, wie sie millionenfach auf Portalen wie YouTube verfĂĽgbar sind. Jeder kennt das GefĂĽhl nach einem Kinobesuch, dass der Trailer, den man sich zuvor angesehen hatte, eigentlich schon der ganze Film war. Nun wird der Trailer zum Hauptfilm. (bsc)