Die Murmelmaschine

Apple hat etwas eigentlich Ungreifbares in kontrollierte Bahnen gelenkt und zu einem Marketinginstrument von weltweiter Wucht geformt: das Gerücht.

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Von
  • Peter Glaser

Gerüchte können eine bemerkenswerte Macht entfalten. So verbreitete sich etwa Anfang der neunziger Jahre in Nigeria das Gerücht, einfacher Körperkontakt mit einem Fremden genüge, um männliche Geschlechtsteile schrumpfen oder verschwinden zu lassen. Im Land brach eine Massenhysterie aus. Mindestens ein Dutzend vermeintlicher Genitalien-Diebe wurde gelyncht. Ein Polizeisprecher betonte, dass bei allen vorgeblich bestohlenen Männern "medizinisch nachgewiesen worden sei", dass sich alle Organe am vorgesehenen Ort befunden hätten.

Wie kann eine Firma wie Apple, die so viel Wert auf Klarheit, einfache Bedienung und elegante Linien legt, so etwas Ungenaues, Wolkiges und irrational Ungefähres wie Gerüchte zu einem wesentlichen Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit machen?

Die anderen versuchen es mit Vaporware -- Dinge werden, um die Kunden bei der Stange zu halten, angekündigt und erst mit monate- oder jahrelanger Verspätung oder gar nicht ausgeliefert. In einem Witz aus dem Sommer 1995 teilt Gott Bill Gates mit, dass die Welt in 30 Tagen untergehen wird. In der Firma erklärt Gates dazu: "Ich habe eine gute und eine sehr gute Nachricht. Die gute: Gott hat zu mir persönlich gesprochen, ich muss wirklich wichtig sein. Die sehr gute: Wir brauchen Windows 95 nicht auszuliefern!" Sogar die Tochter von Bill und Melinda Gates kam im April 1996 später als angekündigt auf die Welt. Man kann Vaporware auch als eine Form von Konzeptkunst ansehen: Der Entwurf selbst ist bereits das Kunstwerk, weitere Verwirklichungsschritte sind also unnötig.

Die Produktankündigung soll potenzielle Kunden in einen Zustand versetzen, den Zoologen im Tierreich als sexuelle Duldungsstarre bezeichnen – lustgetöntes Ausharren. Auch wenn das digitale Zeitalter mit Hochgeschwindigkeitsverheißungen lockt, gehört Warten doch maßgeblich zum Anwenderleben. Als Apple-Nutzer kann man sich diese Zeit, auch ganz ohne iTunes, mit Gerüchten zu angeblichen Novitäten vertreiben, die wie Wetterprognosen eine Vorstellung von künftigem Geschehen zu geben versuchen. Apple ist inzwischen sowas wie der Träger des Schwarzen Gürtels im Forcieren von Gerüchten. Gerüchte und Anekdoten geistern kostenlos durch die Werbewelt, weshalb viele, die teures Marketing betreiben müssen, das Unternehmen mit dem Apfel beneiden.

Der kanadische Management-Forscher Henry Mintzberg hat in einer Studie festgestellt, dass sich erfolgreiche Manager auch darin von weniger erfolgreichen unterscheiden, dass sie peripheren Informationen wie Körpersprache, Stimmungen und Gerüchten ebensoviel Beachtung schenken wie den harten Fakten. Apple-Fans sind auf diese Art von Wahrnehmung schon lange sensibilisiert. Es ist eine Schule des Sehens, die Apple seit Jahren entwickelt: Der Blick wird auf kleinste Details gelenkt, die zu Vermutungen Anlass geben können. Das Ganze hat einen ähnlichen Unterhaltungswert wie Verschwörungstheorien und inspiriert auch zu konspirativem Denken, allerdings mit einem speziellen Spin. Es ist eine Art Detektivspiel. Der alles nach Wahrscheinlichkeiten abtastende Blick passt gut zum Bild des findigen Apple-Fans.

Apple-Gerüchte sind eine Welt für sich, das Orakel von Delphi war dagegen nur eine harmlose Spielerei. "Nach wochenlangen Gerüchten verdichten sich nun die Informationen zur nächsten Generation des MacBook Air", wusste Mac & i etwa kunstvoll aus den stets wie Kraut wuchernden Gerüchten zu destillieren – "Während sich 9 to 5 Mac vor einigen Tagen mit der Vorhersage aus dem Fenster lehnte, es könne noch in dieser Woche soweit sein, legt nun das zum renommierten Wall Street Journal gehörende Blog All Things D mit der Information nach, Apple plane einen Verkaufsstart erst ab KW 29. Informierte Kreise hätten angegeben, die Geräte würden Ende nächster Woche verfügbar sein."

Gerüchte können ziemlich wilde Tiere sein, hohe Schadenersatzforderungen nach sich ziehen oder Marken beschädigen. Neiderfüllt wird Apple dafür bewundert, quasi die ausführliche Version der "Gefällt mir"- oder "+1"-Buttons aus den sozialen Netzen zu sein, mit denen man einem ausschließlich positiven Impuls nachgeben kann. Und: "Fama crescit eundo", wie bereits der römische Dichter Vergil wusste – das Gerücht wächst, während es wandert. Jede weitere Mutmaßung über diese, jene und sonstwelche Neuerung fördert den Ruhm der Firma Apple, ein vor Innovation summendes Unternehmen zu sein.

Gerüchte sind vorauseilende Neugierde. Sie füllen vorhandene Informationslücken mit der eigenen Vorstellung aus. Und sie sind keinesfalls, wie manche meinen, Zeichen eines Mangels an lohnenden Themen. Es handelt sich um einen egalitären, sozusagen urdemokratischen Vorgang. Der Vorwurf, Apple würde seine Kunden bevormunden, hat eine lange Tradition. Die ersten Rechner von Apple waren offene Maschinen, in die sich einfach Bauteile von Fremdherstellern einmontieren ließen – mit dem Macintosh änderte sich das. Man konnte ihn nicht mehr aufklappen und loslöten; dafür konnten nun auch Menschen einen Computer benutzen, die nicht wussten, was ein Jumper ist. Seither heißt es in immer neuen Variationen, Apple würde die Nutzer gängeln, einsperren und so weiter. Dass die Nutzer stattdessen beispielsweise dazu inspiriert werden, immer neue Gerüchte über die nächsten Schritte in die Zukunft in die Welt zu setzen, zeigt im Gegenteil die forscherische Anteilnahme der Fans. Die 24 Stunden um die Uhr geöffnete Gerüchteküche von Apple ist die Demokratisierung des obskuren Analystentums. Jeder darf nun ein Experte sein und Prognosen wagen. Und anders als bei den Vaporware-Vertretern taucht bei Apple am anderen Ende einer Gerüchtewolke immer auch ein tatsächliches neues Produkt auf – zwar manchmal nicht das, was die Auguren vorhergesagt haben. Aber genau wie die Firma lernen auch sie und verbessern ihr Feingefühl. (se)