Google+: noch ein soziales Netzwerk oder ein Versionssprung des gesellschaftlichen Betriebssystems

Vielleicht wünscht und erträumt sich Bernd Oestereich nur diese neue Welt, aber möglicherweise ist Google+ wirklich der Wendepunkt zu etwas zivilisatorisch Neuem.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Bernd Oestereich

Dass Google+ in nur zwei bis drei Wochen über 10 Millionen Teilnehmer gewinnen konnte, ist zwar beeindruckend, aber zunächst nicht mehr als eine Metrik für die Anzahl der Geeks auf diesem Planeten. Technisch ist es eine beeindruckende HTML5-Referenz, funktional wird Google+ hauptsächlich mit Facebook, Twitter, XING und LinkedIn verglichen: Welche Features sind auf welcher Plattform vorhanden beziehungsweise in welcher Weise besser realisiert? Das führt dann auch schnell zur Frage, ob wir nun, oh je, neben Twitter, XING und LinkedIn noch eine weitere soziale Plattform administrieren und parallel bedienen müssen.

Diese Sichtweise könnte in die falsche Richtung führen, und Fragen wie "Welche Konsequenzen hat Google+ für LinkedIn, Twitter & Co.?" sind vielleicht die falschen Fragen. Möglicherweise ist die bessere Frage: Welche Konsequenzen hat Google+ für Tageszeitungen (Welt, Süddeutsche Zeitung etc.), Fachverlage und -magazine (Pearson, Heise etc.) und Internet-Wegelagerer (App-Shop von Apple u.Ä.)?

Google hat gute Voraussetzungen, Nachrichten- und Fachmedien in ein neues Zeitalter zu versetzen und deren Existenzgrundlage aufzulösen, wie einst der Offsetdruck den Bleisatz. Wie kommt das? Für diese Medien sind zwei Faktoren relevant: 1. Aktualität bzw. ein zeitlicher Informationsvorsprung und 2. die inhaltliche Bewertung und Kontextualisierung von Informationen.

Zum ersten Faktor: Die Aktualität und Neuigkeit von Beiträgen kann Google algorithmisch ermitteln. Einerseits durch grundlegende formale Analysen von Internet-Inhalten, wie es für Google-Robots Tagesgeschäft ist. Andererseits (und das baut Google erst in letzter Zeit stärker aus) durch die Auswertung von Nutzerverhalten: Wer liest (zeigt Aufmerksamkeit), "liked" (empfiehlt passiv) oder teilt (empfiehlt aktiv) Beiträge – wobei die "wer" noch gewichtet sind sowie aktive und angesehene Nutzer einflussreicher sind als Gelegenheits- und wenig bekannte Nutzer. Twitter und Facebook haben diese Dimension bekannt gemacht. Der Begriff "Facebook-Revolution" ist auch ein Hinweis darauf, dass die traditionellen journalistischen Nachrichtenkanäle durch Facebook und Twitter Konkurrenz bekommen haben. Wenn Google will, kann es dieses Spiel noch viel besser spielen. Google+ zeigt, das Google genau das will. Seine technischen Möglichkeiten kann Google nutzen, um Informationsvorsprünge zentral (quasi als Betriebssystemfunktion), systematisch und stetig zu produzieren.

Dank besserer Mobilgeräte sind die Printausgaben der Tageszeitungen für Geeks schon heute nur noch Romantik und für andere nur noch so lange bedeutsam, wie sich Menschen nicht der Internetnutzung anschließen. Die Onlineausgaben der Zeitungen sind zeitlich und räumlich einfacher zugreifbar. Die redaktionelle Qualität im Netz ist (bspw. bei Welt Online) dabei teilweise grauenvoll und erweckt den Eindruck, als würde ins Internet erstmal achtlos das Rohmaterial reingeworfen: mehrfache Einfügung identisch oder nur syntaktisch variierter Agentursequenzen in einem einzelnen Beitrag, abrupte Einfügung von stereotypem Kontext- und Archivmaterial etc. Reputierte freie Blog-Autoren können sich solche Mängel gar nicht leisten. Kein Wunder, dass zunehmend Nutzer gar nicht mehr den Umweg über Onlinezeitungen gehen, sondern direkt auf die von Twitter, Rivva, Feed-Aggregatoren und -Readern und ähnlichen referenzierten Beiträge einsteigen. Die Ereignisse in Oslo hab ich erst in Google+ entdeckt und dann festgestellt, dass die Internetseiten der tradtionellen Nachrichtenanbieter noch nichts Substanzielles zu melden hatten.

Beim Faktor der inhaltlichen Bewertung von Informationen verfügt Google ebenfalls über den längeren Hebel, beziehungsweise der Internet-Konzern besitzt ein noch gar nicht richtig zu bemessenden Potenzial. Die thematische Zuordnung von Beiträgen leisten wir Nutzer. Das beginnt mit der Verschlagwortung unserer eigenen Blog-Beiträge, geht weiter über die Verschlagwortung durch Leser (Lesezeichendienste etc.) und mündet in personalisierte semantische Analysen und Synthesen von Inhalt und Kontext. Nicht nur, dass die Suchergebnisse bei Google immer wieder erstaunlich treffend sind und heute um Größenordnungen besser sind als noch vor einigen Jahren, bereits die Suchvorschläge sind schon oft inhaltlich verblüffend.

Die sogenannten sozialen Netze, also LinkedIn, XING und Facebook, sind aber möglicherweise auch nur Prototypen für Aspekte des kommenden gesellschaftlichen Betriebssystems. Deren offene Diskussionsgruppen sind schon heute überholt. Zu einem Thema, beispielsweise agilem Projektmanagement, finden sich Dutzende XING-, LinkedIn, Yahoo-, Google- und andere Gruppen. Die Schnittmengen der Mitglieder sind höchstwahrscheinlich groß, die aktiven Mitglieder sind immer dieselben, Werbebeiträge werden stets auf allen Kanälen verbreitet (ja, auch ich mache das …) und den Hauptakteuren ist es eigentlich schon fast egal, wie die Gruppe heißt, auf der sie gerade diskutieren. Soziologische Diskussionen zur Selbstorganisation von Scrum-Teams? Könnte eher in einer Gruppe zu Lean-Management als zu Scrum zu finden sein.

Die Gruppen haben explizite Moderatoren, die durch ihren Moderatorenstatus auch ihr Ego, Besitzstände, Machtbedürfnisse etc. befriedigen können. Meine PM-Gruppe auf XING hat übrigens fast 45.000 Mitglieder und über 10.000 Beiträge. Und deine? Ätsch! Diese Gruppenfürstentümerei ist nervig und nur plattformkonzeptionell bedingt, das heißt vermeidbar. Statt den Fokus auf Orte (identifizierbare Themengruppen mit eigener Identität) oder Personen zu legen (Substantive, Objekte) könnte der Fokus ebenso auch auf den Beziehungen beziehungsweise besser noch Kommunikationen liegen (Verben, Handlungen). Daran denke ich jetzt natürlich nicht ganz zufällig, habe ich mich doch gerade mit Systemtheorie, Luhmann und systemischer Organisationstheorie beschäftigt. Dieser konzeptionelle Schwenk weg von den Gruppen- und Personenidentitäten hin zu den Handlungen und Kommunikationen der Akteure könnte vieles grundlegend ändern. Die Grundfunktionen beziehungsweise -anforderungen (vgl. Edd Dumbill) an das Internet als gesellschaftliches Betriebssystem (vgl. Günter Dueck) lassen sich damit vermutlich sogar besser entfalten:

  1. Identität/Vertrauen: Mit wem hab ich es zu tun?
  2. Kommunizieren/Informationen teilen durch Produktion neuer oder Weiterleitung bestehender Inhalte: Wer bekommt welchen Zugang zu Informationen?
  3. Benachrichtigungen: Wie werde ich über die Herstellung und Änderung (Ereignisse) von Inhalten informiert?
  4. Annotation von Inhalten: Wie wirken Kommentare, (inhaltliche, quantitative, qualitative) Bewertungen und Kontextualisierungen (Zuordnungen, Verschlagwortungen) bestehende Beiträge?

Die bisherigen sozialen Netze orientieren sich an Gruppen- und Personenkonstitutionen und tun sich mit weitergehenden systemisch-holistischen Konzepten schwer, denn ihre Geschäftsmodelle basieren auf Abgeschlossenheit. Darunter leiden wir alle, weil wir die konkurrierenden Plattformen jeweils separat administrieren und bedienen müssen. Google hat im Gegensatz dazu aufgrund seines Geschäftsmodells sehr wohl die Möglichkeit, hier eine neue Version eines (offenen) gesellschaftlichen Betriebssystems zu initiieren. Insofern werden die nächsten Wochen und Monate interessant. Ist Google bloß eine Copycat, die die üblichen Gruppen- und Diskussionsfunktionen reproduziert und uns damit belästigt, nun noch ein weiteres soziales Netzwerk zu pflegen? Oder gelingt es Google, Algorithmen nutzbar zu machen, damit wir mit anderen Menschen direkter und ohne konzeptionell bedingten administrativen Ballast in anregende und wertvolle Kommunikation zu treten?

Für mich fühlt sich Google bislang weniger wie eine (weitere) Sammlung existierender Bekannte und Freunde an als ein Medium oder Ort, neue Personen zu treffen. Ich lerne neue Menschen kennen, weil mich ihre kommunikativen Beiträge interessieren. Ich trete mit ihnen direkter in Kontakt, bislang ohne Umweg über allgemein konstituierte Spezialgruppen. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet fallen mir sofort unzählige Defizite von Google+ auf, da fehlt noch viel, und noch nicht alle bisherigen Funktionen sind überzeugend. Der Vergleich mit den bisherigen geschlossenen sozialen Netzen steht bei dieser Sichtweise aber nicht an. ()